Hätte ein anderer Bundeskanzler als Kurt Schuschnigg die Auslöschung Österreichs im März 1938 verhindern können? Diese Frage ist zwar wie jede kontrafaktische Geschichtsschreibung hypothetisch, aber höchst interessant. Lange lautete die vorherrschende Erklärung der Ereignisse vor 80 Jahren, dass Österreich Adolf Hitler und seiner Wehrmacht schutzlos ausgeliefert und die Annexion daher unvermeidbar gewesen sei. Aber gerade zum aktuellen Jahrestag gibt es zahlreiche Historiker, die auf die katastrophalen Fehler Schuschniggs hinwiesen – etwa auf das Abkommen vom Juli 1936, als er sich verpflichtete, Deutschnationale in seine Regierung aufzunehmen, und seine Unterschrift in Berchtesgaden im Februar 1938, die Arthur Seyss-Inquart zum Innenminister machte. Das waren Schuschniggs persönliche Entscheidungen. Hitler verfügte zwar über viele Druckmittel gegen Österreich, aber allmächtig war er damals nicht.

Die Schwäche des Kanzlers wird besonders deutlich sichtbar, wenn man ihn mit Winston Churchill vergleicht, dessen Verhalten im Oscar-prämierten Film "Die dunkelste Stunde" dargestellt wird. Basierend auf den Thesen des Historikers John Lukacs schildert der Film, wie Churchill im Mai/Juni 1940 trotz Frankreichs Kapitulation und gegen den Widerstand der meisten Parteifreunde den Kampf gegen Hitler aufrechterhält und so den späteren Sieg über das NS-Regime erst ermöglicht. Wäre es vielleicht nie so weit gekommen, wenn vor 1938 ein österreichischer Churchill am Ballhausplatz regiert hätte? Das ist zumindest vorstellbar, sogar wahrscheinlich.

Mehr Schuschniggs als Churchills am Werk

Diese Frage ist auch heute relevant – in einer Zeit, in der sich illiberale Populisten, autoritäre Herrscher und Diktatoren weltweit im Aufwind befinden und der amerikanische Präsident diese Männer zumeist bewundert und sich ihnen anbiedert. Wladimir Putin, Xi Jinping, Tayyip Erdogan, Viktor Orbán oder der philippinische Präsident Rodrigo Duterte sind nicht Hitler, und die Gegenwart ist mit den 1930er-Jahren nicht vergleichbar. Aber wer die Verschlechterung der Bedingungen für Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte beklagt, muss vor allem schauen, wer sich dem mit welcher Entschlossenheit entgegenstellt. Da ruhen die Hoffnungen heute auf einer deutschen Kanzlerin, die zu Beginn ihrer vierten Amtszeit ausgelaugt wirkt, und einem jungen französischen Staatspräsidenten, der noch keine weltpolitische Krise hat meistern müssen. Sonst scheinen derzeit mehr Schuschniggs als Churchills am Werk.

Auch in der Innenpolitik sind die Absichten und Handlungen der mitregierenden FPÖ für Österreichs Zukunft weniger wichtig als die Reaktion der unbestritten demokratischen Kräfte, seien sie selbst in der Regierung oder außerhalb. Da scheint vieles noch zu funktionieren, einschließlich der Bereitschaft, früh auf fragwürdige Entwicklungen – etwa in Herbert Kickls Innenministerium – zu reagieren. Aber entscheidend wird hier letztlich der Kanzler selbst sein, dessen Persönlichkeit für viele ein Enigma bleibt.

Persönlichkeiten verändern die Geschichte; das hat zuletzt die Wahl Donald Trumps gezeigt. Das letzte Kapitel aber wird von denen geschrieben, die Widerstand gegen das politische Übel leisten – oder auch nicht. Ob im kritischen Moment jemand da ist, der die notwendige Weitsicht und das Rückgrat hat, ist oft Glückssache. Es ist zwar nicht 1938, aber die Welt braucht derzeit eine gute Prise solchen Glücks. (Eric Frey, 12.3.2018)