Es gibt zahlreiche soziologische Belege dafür, dass die frühe Auslese zu sozialer Segregation und einer Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Familien führt.

Foto: imago/Roland Mühlanger

In den vergangenen Wochen hat der AHS-Professor und Philosophiedozent Georg Cavallar zweimal hier im STANDARD auf Kommentare von mir reagiert, in denen ich die Mängel der zu frühen gymnasiale Auslese sowie die damit eingehende soziale Segregation kritisiert habe.

Wie vielen seiner AHS-Kollegen verdrängt Herr Cavallar unangenehme empirische Daten als Bedrohung ihres professoralen Status und hält es für "zweckmäßiger, auch die Stärken des gegenwärtigen Systems zu sehen." Unglücklicherweise erwähnt er keine dieser "Stärken"; er offeriert vielmehr das Beispiel eine Professorenkollegin, die ihre Kinder nicht ins Gymnasium, sondern in eine niederösterreichische Neue Mittelschule (NMS) schicken wird, weil diese die besseren Lehrkräfte und die "netteren Familien"(sic) habe. Hm. Wie repräsentativ ist dieses eigenartige Exempel "anekdotischer Evidenz", und was soll es signalisieren? Den Beginn einer Flucht von AHS-Lehrern mit ihren Kindern vor den vielleicht doch nicht gar so eindrucksvollen Stärken ihrer eigenen Schulen?

Welche Stärken der AHS?

Was wären denn diese ominösen "Stärken" unserer gegenwärtigen Sekundarstufe I? Die Verlässlichkeit der Auslese? Leider gibt es zahlreiche lernpsychologische Belege dafür, dass es im Alter von zehn Jahren nicht möglich ist, auf der Basis von Volkschulnoten oder Aufnahmeprüfungen die Maturaeignung zu prognostizieren. Die erreichten Leistungen? Leider gibt es zahlreiche Pisa-Belege dafür, dass unser Auslesesystem nur einen vergleichsweise geringen Prozentsatz von Spitzenleistungen, aber eine alarmierend große Gruppe von schulischen "Minderleistern" produziert.

Ist es Fairness?

Die Fairness des Systems? Leider gibt es zahlreiche soziologische Belege dafür, dass die frühe Auslese zu sozialer Segregation und einer Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Familien führt. Die effiziente Nutzung der Ressourcen? Leider gibt es zahlreiche ökonomische Belege dafür, dass es den Kommunen schwerfällt, ihre räumlichen und personellen Ressourcen sparsam zu nutzen, weil viele Kinder auf ihren langen Schulwegen zur überfüllten AHS an halbleeren NMS vorbeifahren.

Sind es die Kosten?

Die niedrigen Kosten? Leider gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Österreich eines der teuersten Schulsysteme der OECD-Länder hat, teurer als viele Gesamtschulsysteme, in denen es schon lange das gibt, was Herr Cavallar fordert, nämlich eine indexbasierte Zusatzfinanzierung von "Brennpunktschulen" an sozioökonomisch besonders benachteiligten Standorten.

Gibt es noch andere Meriten, die mir entgangen sind?

Was mich als vergleichenden Erziehungswissenschaftler, der seit mehr als 40 Jahren Gesamtschulsysteme analysiert (auch jahrelang "vor Ort" in England, Schweden, Japan und den USA), einigermaßen irritiert, ist der leichtfertige Umgang Herrn Cavallars (und vieler andere Lehrer und Politiker) mit oberflächlichen Halbwahrheiten über ausländische Schulsysteme.

Nicht verallgemeinern

Selbstverständlich haben auch Gesamtschulsysteme Probleme, nicht zuletzt deswegen, weil in allen größeren Städten eine soziale Segregation beim Wohnen stattfindet und ambitionierte Eltern manchmal auch mit unfairen und unlauteren Mitteln versuchen, die Schulkarrieren ihrer Kinder zu "optimieren". Das erschwert die soziale Durchmischung der Schülerschaft. Es ist jedoch unzulässig, plakativ und verallgemeinernd von einer Segregation "durch die Hintertür" in Gesamtschulen zu sprechen, ohne sich mit der französischen "carte scolaire", den englischen "codes of admission", den Algorithmen der holländischen Schulplatzzuweisung und den Aufnahmepraktiken schwedischer oder Südtiroler Gesamtschulen auseinanderzusetzen, die alle das gleiche Ziel haben: soziale Fairness bei der Rekrutierung der Schülerschaft der einzelnen Schulen und damit Fairness zwischen den Lehrerkollegien dieser Schulen.

Die Mühen der Ebene

Dass manche dieser Bemühungen nicht so erfolgreich sind, wie sie sein sollten, spricht nicht gegen das Gesamtschulkonzept, sondern kommt daher, dass bildungspolitische Demokratisierungsprozesse auf der regionalen beziehungsweise einzelschulischen Ebene unvermeidlich langsam, behutsam und mühsam erfolgen.

Türkis-blaue Ignoranz

Herr Cavallar kann sich allerdings – wie die Gymnasiallehrerschaft insgesamt – beruhigt zurücklehnen: Die gegenwärtige türkis-blaue Koalitionsregierung schert sich weder um die Befunde der Bildungsforschung noch um internationale Erfahrungen; sie hat in ihrem Koalitionspakt, dieser Generalabsolution vor jeglichem politischen Dazulernen, beschlossen, das "bewährte" Ausleseschulsystem beizubehalten. Eltern und Kinder müssen daher weiterhin die strukturellen Probleme des Schulsystems familienintern abarbeiten.(Karl Heinz Gruber, 13.03.2018)