Der Chemiker Robert A. Shaw verdrängte lange Zeit die Ereignisse rund um die Vertreibung seiner Familie. Als er sich schließlich wieder damit beschäftigte, machte er bittere Erfahrungen.

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"Die Wochen und Monate nach dem 'Anschluss' waren wahrscheinlich die schlimmsten meines Lebens", sagt Robert A. Shaw fast auf den Tag genau 80 Jahre danach. "Vor dem März 1938 hat man mich als ganz normalen Österreicher behandelt", erinnert sich der britische Chemiker, der damals noch Robert Schlesinger hieß. "Nun war ich auf einmal ein Saujud, obwohl das Judentum in unserer Familie überhaupt keine Rolle gespielt hat."

Der Terror begann in der Schule. 1938 ging der damals 13-Jährige ins Realgymnasium in Mauer bei Wien – ein Internat, weil die Ehe seiner Eltern dem Zusammenbruch nahe war. Nach dem "Anschluss" wurde eine Truppe von deutschen SS-Männern in der Schule untergebracht. "Die haben sich mir gegenüber besser verhalten als meine lieben österreichischen Mitschüler, die mich immer wieder verprügelten, vor allem außerhalb der Schule."

Es war ihm immerhin erlaubt, das Schuljahr zu beenden. Was er damals noch nicht wusste: Es sollte sein letztes Schuljahr bleiben. Umso erstaunlicher ist der weitere Lebensweg des heute 93-Jährigen, der es in London mit 40 Jahren zum Chemie-Professor brachte und am Montag im Beisein des österreichischen Bundespräsidenten ein Ehrendoktorat der Universität Wien erhielt.

Kritische Haltung gegenüber Österreich

Vorgeschlagen dafür wurde er von Chemie-Dekan Bernhard Keppler, verliehen wurde es ihm gemeinsam mit dem Biochemiker und Immunologen Isaac P. Witz, der ebenfalls als Kind aus Wien flüchten musste. "Die Annahme des Ehrendoktorats soll nicht heißen, dass ich mit Österreich ausgesöhnt bin. Ich habe das nur unter der Bedingung akzeptiert, dass ich aus diesem Anlass auch über die Dinge sprechen kann, die mir und meinen Eltern angetan wurden", stellt Shaw klar.

Man kann es ihm kaum verdenken. So musste er vor knapp 80 Jahren mit seiner Mutter aus der Spiegelgasse in der Wiener Innenstadt ausziehen und in den zweiten Bezirk übersiedeln und traute sich kaum mehr aus dem Haus. Er war selbst das Opfer von Prügelattacken geworden und hatte mitansehen müssen, wie ältere Juden mitten auf der Straße zusammengeschlagen worden waren. Noch im Exil in London hatte er Angst, wenn er auf offener Straße einer Gruppe Jugendlicher begegnete.

Shaw erinnert sich aber auch an einen Arzt, der mit seiner Frau vor seiner Ordination die Straße waschen musste. "Beide haben sich in der Nacht danach umgebracht." Auch die Reichspogromnacht im November erlebte er als Augenzeuge: Direkt gegenüber der Wohnung im zweiten Bezirk ging eine Synagoge in Flammen auf. Einen Monat später konnte der Vater, der ein Luxusschuhgeschäft in der Kärntner Straße besessen hatte, nach Algerien fliehen und wollte den Sohn mitnehmen. Doch der blieb bei der Mutter, die weiter Bittbrief um Bittbrief schrieb, um irgendwo Asyl zu finden.

Getrennte Flucht

Schließlich konnten die beiden getrennt voneinander der Nazi-Hölle entfliehen und nach England ausreisen, zuerst die Mutter und dann ihr Sohn am 5. Juli 1939 in einem der letzten Kindertransporte. In der Tasche hatte er zehn Reichsmark (umgerechnet nicht einmal ein Euro) sowie einen Reisepass, in den groß ein rotes J für "Jude" gestempelt war. "Meine Großmutter brachte mich damals zum Bahnhof. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe", sagt Shaw. "Sie und vier weitere Angehörige meiner Familie wurden von den Nazis im Holocaust ermordet."

Die Kindertransporte wurden wenige Wochen später aufgrund des Kriegsbeginns eingestellt. Sie hatten rund 10.000 jüdischen Kindern und Jugendlichen das Leben gerettet, insgesamt überlebten von den etwa 1,6 Millionen jüdischen Kindern in Mitteleuropa aber nur etwa 100.000. Robert A. Shaw musste nun trotz gutbürgerlicher Herkunft das neue Leben wieder ganz von unten beginnen.

Während seine Mutter als Büglerin und Köchin das Auslangen suchte, half der Sohn zunächst bei Bauern in Suffolk aus, ehe er nach eineinhalb Jahren zu seiner Mutter nach London zog. Dort war er dann als Laufbursche eines Delikatessengeschäfts tätig, machte eine Ausbildung zum Dreher und meldete sich 1944 als Freiwilliger zur Armee. In dieser Zeit erwarb er im Fernunterricht die Qualifikation, um zur Universität zugelassen zu werden.

Wissenschaftliche Laufbahn

1947 begann er mit dem Chemie-Studium, 1953 promovierte er an der University of London und wurde am dortigen Birkbeck College 1965 vom Lecturer direkt zum Full Professor ernannt. Zuvor hatte er sowohl seine Mutter als auch seinen Vater jahrelang mit ein wenig Abgespartem unterstützt. Die beiden starben in Armut: seine Mutter 1954 in London, sein Vater zehn Jahre später in der Nähe von Paris.

Sein eigenes Leben, das er – wie es in seiner Autobiografie heißt – dem Kindertransport verdankt, hat Shaw ganz in den Dienst der Wissenschaft gestellt. Als Chemiker beschäftigte er sich vor allem mit Phosphazenen, einer Verbindungsklasse, die als Grundlage für Polymere – also Kunststoffe – auch technisch eine breite Anwendung findet. An der Wissenschaft schätzt er bis heute den Internationalismus und die Möglichkeit, stets Neues dazuzulernen. "Das hilft auch gegen die Fremdenfeindlichkeit, eines der größten Übel unserer Gesellschaften."

Lange Zeit des Verdrängens

Einer seiner Büronachbarn am Birkbeck College war der Historiker Eric Hobsbawm, ebenfalls ein Emigrant, mit dem er aber so gut wie gar nicht über die Erfahrungen der Vertreibung gesprochen habe: "Damals wollte ich das alles verdrängen und nichts mehr damit zu tun haben. Ich hatte auch nur wenig Kontakte zum Emigranten-Establishment in England."

Mit seiner österreichischen Vergangenheit begann sich Shaw erst nach seiner Heirat 1980 zu beschäftigen: Seine Frau und später ihre beiden Kinder – beide heute Mediziner – drängten ihn, von seiner Kindheit zu erzählen, und so begann er auch, in den alten Koffern zu stöbern, in denen die Mutter so gut wie alle Dokumente der Familie ins englische Exil gerettet hatte. Der Prozess dauerte über Jahre und war auch mit Reisen nach Wien verbunden. Und je länger er in den Unterlagen las und je mehr er sich über die Jahre langsam das Verdrängte wieder vergegenwärtigte, desto stärker seien seine antiösterreichischen Gefühle geworden, erinnert sich Shaw nicht ohne Verbitterung.

So konnte er im Laufe der Jahre rekonstruieren, wie seine Mutter nach 1945 versuchte, die arisierte Villa in Hietzing zurückzubekommen, die sie geerbt hatte. Sein Vater bemühte sich um das ebenfalls arisierte Schuhgeschäft in der Kärntner Straße – oder wenigstens um eine adäquate Entschädigung. "Aber sie scheiterten, und zwar genau so, wie es der Titel von Robert Knights Buch über die Entschädigungen für Juden nach 1945 auf den Punkt bringt: 'Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen'."

2001 erhielt Shaw selbst ein Angebot vom Allgemeinen Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus: Für die Villa seien ihm als Wiedergutmachung knapp 13.000 Dollar geboten worden, für die Miete der Villa seit 1938 an die 9000 Dollar. Für das Schuhgeschäft hätte es eine Entschädigung von knapp 24.000 Dollar gegeben. Shaw lehnte ab und ist bis heute enttäuscht: "Mir geht es nicht um das Geld, sondern einzig und allein um Gerechtigkeit." (Klaus Taschwer, 15.3.2018)