Es war ein schöner Tag, erzählt Ron Haeberle. Blauer Himmel, das satte Grün der Reisfelder – ein Postkartenidyll. Drückend schwül war es auch, aber das war ja in Vietnam nie anders. Als die US-Hubschrauber am Morgen des 16. März 1968 My Lai erreichen, ein kleines Dorf 500 Kilometer nordöstlich von Saigon, geht gerade die Sonne auf. Die Charlie Company fliegt ein, um Vietcong-Rebellen aufzuspüren.

Sergeant Haeberle, ein Militärfotograf, soll dokumentieren, wie die GIs die kommunistische Guerilla in die Knie zwingen. Er soll, so erzählt er 50 Jahre später, ihren Heldenmut verewigen. Doch die Bilder, die er drei Stunden später auf Film hat, offenbaren das Gegenteil: Sie zeigen brennende Hütten, Leichen, auch tote Kinder. Und sie zeigen eine tote Frau, die gekrümmt neben ihrem Strohhut liegt. Das Foto – Haeberle hat das Negativ neben zwanzig anderen in eine Plastikhülle gesteckt – ist so entsetzlich, dass es in den Medien nur selten gezeigt wird.

Er springt aus dem Helikopter und geht sofort in Deckung, erinnert sich Haeberle. Feindalarm! Er hört Schüsse – nur wird ihm bald klar, dass es nur die eigenen Leute sind. Niemand erwidert das Feuer. Als er sich dem Dorf nähert, sieht er, wie auf dem Boden liegende Menschen versuchen, sich aufzurappeln – und wie Soldaten erneut auf sie anlegen. Anfangs habe er noch an ein großes Missverständnis geglaubt, sagt Haeberle. Aber bald dämmert ihm, dass die Charlie Company, befehligt von Captain Ernest Medina und Lieutenant William Calley, gerade ein furchtbares Blutbad anrichtet.

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Die für das Massaker verantwortliche Charlie Company wurde unter anderem von Lieutenant William Calley befehligt.
Foto: AP Photo

Hütten gehen in Flammen auf, ein GI reitet wie von Sinnen auf einem Wasserbüffel und sticht mit seinem Bajonett auf das Tier ein. Der Fotograf sieht, wie ein kleiner Bub, bereits verwundet, buchstäblich hingerichtet wird. Fassungslos schreit er den Soldaten an, aus dessen M16-Gewehr die tödliche Kugel kam. "Es war nur ein Wort: Warum? Wir haben uns angestarrt wie vor einem Boxkampf im Ring. Irgendwann hat er sich umgedreht und ist weitergegangen."

Haeberle hat weitergearbeitet an diesem Tag. Heute spricht er von einem irrealen Ausnahmezustand, bei dem er funktioniert habe wie ein Roboter – als stehe er neben sich selbst. Ohnmächtige Hilflosigkeit. "Ich wusste: Hier läuft etwas völlig aus dem Ruder. Aber wäre ich heute noch am Leben, wenn ich versucht hätte, dazwischenzugehen?"

Der Fotograf sitzt an einem Glastisch in seinem Wohnzimmer und schildert das Geschehene ein halbes Jahrhundert später mit einer Präzision, der man anmerkt, dass sich jedes Detail tief in sein Gedächtnis eingebrannt hat. Gefühlsausbrüche scheinen nicht seine Sache zu sein, er ist rational und nüchtern – auch dann, wenn er nach Gründen für den Blutrausch sucht. "Es war Krieg. Im Krieg passieren solche Sachen. Sie werden immer wieder passieren." Medinas Kompanie habe zuvor empfindliche Verluste erlitten. Minenfelder, Heckenschützen, die Nerven lagen blank. "Sie waren auf Rache aus. Nur darum ging es, es ging um Revanche."

Ron Haeberle über den Tag des Massakers: "Ich wusste: Hier läuft etwas völlig aus dem Ruder. Aber wäre ich heute noch am Leben, wenn ich versucht hätte, dazwischenzugehen?"
Foto: herrmann

Hemmungsloses Morden

Lieutenant Calley habe am hemmungslosesten gemordet – wohl auch, weil er seinem Vorgesetzten imponieren wollte: Captain Medina, der ihn des Öfteren gedemütigt hatte. Zunächst zu lebenslanger Haft verurteilt, kam er nach einem revidierten Richterspruch und drei Jahren Hausarrest auf freien Fuß. Erst 2009 ließ er bei einem Auftritt in Columbus, Georgia, erstmals so etwas wie Reue erkennen, ehe er wieder abtauchte. Calley verlange Geld, wenn man ihn treffen wolle, "er würde auch mit mir nur reden, wenn ich ihm 20.000 Dollar zahle", sagt Haeberle – die Verachtung in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

"Ich bin nicht stolz darauf, dass ich diese Bilder gemacht habe. Und ich bedauere nicht, was ich getan habe", sagt der heute 76-Jährige und wischt über das Display seines iPad, um nach einem alten Zeitungsartikel zu suchen: "US-Truppen umzingeln Rote, töten 128." Das war der Ton, der damals zumeist die US-Presse beherrschte. In Wahrheit kamen 504 Dorfbewohner ums Leben.

Im Dienst der US-Propaganda

Als die Charlie Company nach My Lai beordert wird, soll Haeberle beruhigende Motive liefern. Die Schnappschüsse sollen den Familien daheim das Gefühl vermitteln, dass ihre Ehemänner, Söhne und Brüder in der asiatischen Ferne für eine gerechte Sache kämpfen. Die Guten gegen die Bösen, die Roten. "Glückwünsche den Offizieren und Mannschaften zum ausgezeichneten Gefecht", telegrafiert General William Westmoreland, Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Vietnam, nach dem Einsatz in My Lai.

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504 Menschen wurden am 16. März 1968 von US-Soldaten niedergemetzelt. Erst Jahre später begann man sich ihrer zu erinnern.
Foto: AP

In dem Dorf wagt nur einer den wehrlosen Zivilisten zu helfen: der Helikopterpilot Hugh Thompson. In der Endphase des Massakers landet er zwischen den Soldaten und den Zivilisten und fordert über Funk Hilfe für die Verletzten an. 13 Vietnamesen werden ausgeflogen. Während der Rettungsaktion halten Thompsons Bordschützen Glenn Andreotta und Larry Colburn mit ihren Maschinengewehren die eigenen Leute in Schach.

Als Haeberle ins Basislager zurückkehrt, muss er seine Dienstkamera abgeben: eine Leica mit Schwarz-Weiß-Film. Seine persönliche Nikon mit Farbfilm darf er behalten – kein Mensch interessiert sich dafür.

Haeberle bleibt noch zwei Wochen in Vietnam, dann ist der Krieg für ihn vorbei. Er fliegt an die Pazifikküste, nach Seattle, zu einem Onkel. Einmal habe er sechs Stunden auf dessen Terrasse gesessen, den Blick auf die Berge und das Meer gerichtet. Diese sechs Stunden, erzählt er, hätten ihm gereicht, um im Kopf "wieder okay" zu werden. Weder verfiel er seither in Depressionen, noch schreckte er nachts aus dem Schlaf. Er sei ein aktiver Typ, kein Grübler, so charakterisiert er sich.

Damals zögerte er, ehe er mit den Bildern des Blutbads an die Öffentlichkeit ging. Obwohl er um ihre Brisanz wusste: "Ich hatte Beweise für ein Kriegsverbrechen, das war mir klar." Noch in Vietnam beriet er sich mit Jay Roberts, einem Armeereporter. "Wir sagten uns: Wenn wir auspacken, sind unsere Kollegen in Gefahr. Jemanden hinterrücks zu erschießen und es dem Vietcong in die Schuhe zu schieben, das wäre ein Leichtes gewesen." Doch hätte sie jemand gefragt, dann hätten sie alles erzählt, das war der zweite Teil der Abmachung. "Nur kam zunächst keiner, der fragte. Die Kommandanten versuchten, es zu vertuschen – bis ganz nach oben."

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US-Soldaten zwei Jahre nach dem Massaker in My Lai.
Foto: AP Photo

Erst im Sommer 1969 kreuzt ein Ermittler der Army bei ihm auf. Später meldet sich Haeberle beim "Plain Dealer" in Cleveland. Seine Fotos erscheinen dort im November, dann im Magazin "Life". "Es hat der Debatte über den Krieg eine andere Richtung gegeben", zieht er Bilanz und klingt dabei ein bisschen verlegen, weil er, der zufällige Chronist, nicht im Mittelpunkt stehen möchte.

Zu der Zeit hatte er seine Bilder bereits vor handverlesenem Publikum gezeigt. Kurz nach seiner Rückkehr aus Vietnam begann er Vorträge zu halten, bei den Rotariern, im Kiwanis-Club. Man erwartete Erfolgsgeschichten, und er lieferte sie: Sie handelten von US-Ärzten, die vietnamesische Kinder impften, von Entwicklungshilfe. Doch Haeberle zeigte auch den Kontrast, die privaten Aufnahmen. Seinen Zuhörern, erinnert er sich, verschlug es die Sprache.

Die Nikon als Geschenk

Mit einem der Kinder auf den Bildern hat Haeberle vor ein paar Jahren Kontakt aufgenommen. Duc Tran Van ist der Sohn der toten Frau mit dem Strohhut. Haeberle hat damals auch ihn abgelichtet, in dem Moment, in dem sich der Bub vor einem heranknatternden Hubschrauber wegduckt, seine 14 Monate alte Schwester mit seinem Körper schützend.

Duc Tran Van (rechts) ist der Sohn eines Opfers, das Ron Haeberle (links) fotografiert hat.
Foto: Herrmann

Duc, damals sechs, wächst bei seiner Großmutter auf. 1983 wird er in die DDR geschickt. Er kommt nach Cottbus, lernt Deutsch, besucht eine Berufsschule und arbeitet in einem Textilbetrieb. Nach der Wende zieht er nach Nordrhein-Westfalen. Heute lebt er mit seiner Frau und drei Söhnen in Remscheid. Haeberle hat ihm eine Kamera geschenkt: die Nikon, mit der er in My Lai war. (Frank Herrmann aus Cleveland, Ohio, 16.3.2018)