Laurence Sterne: "Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Übersetzt von Michael Walter." € 39,10 / 848 Seiten. Galiani-Verlag, Berlin 2018

Laurence Sterne: "Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick. Tagebuch des Brahmanen. Satiren. Kleine Schriften." € 32,90 / 448 Seiten. Galiani-Verlag, Berlin 2018

Laurence Sterne: "Briefe." € 39,10 / 608 Seiten. Galiani-Verlag, Berlin 2018

Hans von Trotha: "A Sentimental Journey. Laurence Sterne in Shandy Hall." € 17,00 / 144 Seiten. Wagenbach-Verlag, Berlin 2018

Foto: Galiani Verlag

"Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle beide, denn von Rechts wegen oblag die Pflicht ihnen beiden zu gleichen Teilen, hätte bedacht, was sie taten, als sie mich zeugten." Ja, hätten sie es tatsächlich bedacht, die Ehre auch für den Sprecher Tristram Shandy wäre noch größer gewesen, überragt nur vom Ansehen seines literarischen Erzeugers.

Dieser, ein schmaler, knochiger Engländer mit langer Nase und spöttischem Blick, war wohl der größte Feuerwerker der Weltliteratur. Geboren 1713, Absolvent der Theologie in Cambridge und seit Längerem Reverend in der 16 Kilometer von York entfernten Gemeinde Sutton-on-the-Rest, hatte dieser Laurence Sterne Ende 1759 zwei Bändchen herausgebracht, humoristische Prosa, an der er unter Vernachlässigung seiner geistlichen Pflichten geschrieben hatte. Die Bücher verlegte er auf eigene Kosten. Sie wurden in Windeseile zum Yorker Stadtgespräch. Denn, was darin zu lesen war, war höchst ungewöhnlich, ja geradezu schlüpfrig, um nicht zu sagen: offen doppeldeutig. Ob es nun um das Aufziehen einer Standuhr ging oder um Knopflöcher.

Nirgends ankommende Abschweifungen

Dabei lehnte sich der Titel des Romans, der bald London elektrisieren sollte – und Sterne die größere Pfarrei Coxwold verschaffte, heute heißt das mittelalterliche Pfarrhaus dort "Shandy Hall" –, an eine Mode jener Jahre an: "The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman". Leben und Abenteuer, das war eine gefragte Kombination. Deshalb hätte auch beinah ein Londoner Verleger zugegriffen. Wenn nicht Sterne zu viel Vorschuss gefordert hätte. Und wenn er statt "Opinions", Ansichten, "Adventures", Abenteuer, als Erzähler aufgetischt hätte.

Aber was heißt in diesem Fall, einem Roman, der sich bis zur letzten Lieferung 1767 auf mehr als 800 Seiten summieren sollte: erzählen? Von einem zielstrebigen Erzählen aufeinander folgender dramatischer Episoden und Außerordentlichkeiten, zu schweigen überhaupt von Ereignissen, findet sich in "Tristram Shandy" nichts. Statt dessen: ein sich endlos im Reden selbsttätig weiterwebender Assoziationsteppich voller Lachen über sich, die Auflösung des Ichs und dessen rhetorische Selbstvergewisserung in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt. Das Vorwort steht mitten im Text. Es gibt fehlende Seiten, lange Reihen von Sternchen, Abschweifung über Abschweifung über Abschweifung. Überdies ist der Erzähler, wenn Band I einsetzt, noch gar nicht geboren; erst im dritten Band kommt er zur Welt. "Ich denke, es waltet ein Verhängnis dabei – ich gelange selten da hin, wohin ich eigentlich will", sinniert Tristram treffend einmal.

Im Februar 1768 wurde dann Sternes "A Sentimental Journey through France and Italy", eingedeutscht als "Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien durch Mr Yorick", mit Erscheinen ein noch größerer Erfolg. Nicht nur war es als Reisebericht angelegt, immer eine Verlockung im so wissbegierigen 18. Jahrhundert, sondern es war gemäßigter und moralisch moderater. Die Anerkennung konnte Sterne nur wenige Wochen auskosten. Am 18. März 1768 starb er, lange schon lungenkrank.

Ein übergroßes Kompliment muss dem Münchner Übersetzer Michael Walter gezollt werden. Seine fast 40-jährige Arbeit an einer zeitgemäßen, adäquaten, historisch stimmigen Eindeutschung liegt nun in einer schönen Werkausgabe vor, die erstmals alles von Sterne auf Deutsch umfasst. Allerdings ist die Lektüre der Briefe wie auch der Satiren nicht durchgehend so vergnüglich, wie es der Herausgeber und Sterne-Enthusiast (und in Personalunion Verleger) Wolfgang Hörner annonciert. Die Episteln und die kleinere Prosa ergänzen eher, als dass darin neue Facetten aufblitzen.

Vom Traum-Ich zum Ich-Traum

In einem schmalen Band führt der Berliner Publizist Hans von Trotha in Sternes Welt ein. Ausgehend von einem Londoner Museumsbesuch, aus dem eine Reise nach Shandy Hall wird, skizziert er knapp Leben, Werk, Wirkung und Nachwirkung. Hie und da wäre es, neben der richtigen Schreibung einiger Namen, ratsam gewesen, auch Ian Campbell Ross' Biografie von 2001 zu konsultieren und nicht nur jene David Thomsons, die von 1972 datiert. Und bei Hans Ulrich Gumbrecht nachzulesen hätte der Prägnanz und der Rekonstruktion soziophilosophischer Stichworte wie Moralität, Subjekt-Philosophie und Selbstbeobachtung gutgetan.

Trotha zeichnet nach, dass es vor allem deutsche Autoren waren, die Sterne priesen, von Lessing, der "empfindsam", ein neu erfundenes deutsches Wort, für "sentimental", ein neu erfundenes englisches Wort, vorschlug, über den shandyesk abschweifenden Jean Paul – "Auch bei dem Schreiben mus man sich nirgends anzukommen vorsezen" – bis zu Nietzsche, dessen Lieblingsbuch "Tristram Shandy" war.

Merkwürdigerweise macht Trotha dann halt. Und lässt jenen wohlbekannten Tagebucheintrag des Frontsoldaten Ernst Jünger im Herbst 1915 aus, bei dem Lektüre Traum wurde und Rausch zum Roman: "Den 'Tristram Shandy' trug ich während der Gefechte bei Bapaume in einer handlichen Ausgabe in der Kartentasche herum und hatte ihn auch bei mir, als wir vor Favreuil bereitstanden. Da man bis zum späten Nachmittag warten ließ, wurde es bald recht langweilig, obwohl die Lage nicht ungefährlich war. Ich begann also zu blättern, und die verquickte, von mannigfachen Lichtern durchbrochene Weise setzte sich bald wie eine geheime Begleitstimme in eine helldunkle Harmonie zu den äußeren Umständen. Nach vielen Unterbrechungen und nachdem ich einige Kapitel gelesen hatte, erhielten wir endlich den Befehl zum Angriff; ich steckte das Buch wieder ein und lag bereits bei Sonnenuntergang mit einer Verwundung da. Im Lazarett nahm ich den Faden wieder auf, als ob alles Dazwischenliegende nur ein Traum gewesen wäre oder zum Inhalt des Buches selbst gehörte, als eine Einschaltung von besonderer geistiger Kraft."

Sterne und die Moderne

Die wundersame Vielschichtigkeit des leseatemberaubenden "Tristram Shandy" nahm Experimente der Literatur um mehr als 150 Jahre vorweg.

Als James Joyce sein zweites großes Schreibprojekt "Finnegans Wake" in Stichworten umschreiben sollte, zählte er auf: Mann, Frau, Geburt, Kindheit, Nacht, Schlaf, Heirat, Gebet, Tod – alles à la "Tristram Shandy". Und ergänzte: "Nur dass ich versuche, viele Erzählebenen mit einer einzigen ästhetischen Absicht zusammenzufügen. Haben Sie jemals Laurence Sterne gelesen?" Virginia Woolf nahm Shandys Redefluss als Inspiration, ganz neue Wege des Erzählens zu erforschen. Für Italo Calvino, den Autor des verspielten Romans "Wenn ein Reisender in einer Winternacht", war Sterne der Urvater aller Avantgarderomane, Inspiration für Joaquim Machado de Assis, Jorge Luis Borges, Vladimir Nabokov, Salman Rushdie. Und jüngst war in Ian McEwans "Nussschale" der Erzähler noch nicht geboren.

"Ich höre oft", meinte Milan Kundera, "der Roman habe alle seine Möglichkeiten bereits ausgeschöpft. Ich glaube, das Gegenteil trifft zu: In den vierhundert Jahren seiner Geschichte hat der Roman viele seiner Möglichkeiten übersehen: Er hat große Gelegenheiten ungenutzt gelassen, Wege vergessen, Rufe nicht vernommen. "Tristram Shandy" von Laurence Sterne ist einer dieser großen abhandengekommenen Impulse."

Denn dieser Roman, so Kundera, "macht uns nichts weis: weder die Wahrheit seiner Figuren noch die Wahrheit seines Verfassers, noch die Wahrheit des Romans als Literaturgattung: Alles wird infrage gestellt, alles wird in Zweifel gezogen, alles ist Spiel, alles ist Unterhaltung (ohne sich dessen zu schämen), und zwar mit allen Konsequenzen, die das für die Romanform mit sich bringt." (Alexander Kluy, 18.3.2018)