20 Jahre nach der Uraufführung im Wiener Volkstheater zu neuem polemischem Leben erweckt: Mitterers Fallstudie mit Florian Teichtmeister (li.) und Alexander Absenger als seinem Quälgeist.


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Wien – Ein Jude spielt den berühmtesten Juden der dramatischen Weltliteratur. Auf der Bühne des Wiener Josefstadt-Theaters gibt der Schauspieler Kirsch (Florian Teichtmeister) den Shylock. Unter lauter Knattermimen ist diese schändlich gedemütigte Figur ein sonderbar gefasster Mensch. Einer, der fragt, ob nicht auch ein Jude Hände, Sinne oder Neigungen habe, die er – wie alle anderen Menschen auch – sein Eigen nennt. Doch Juden besitzen in den Augen von Nazi-Verbrechern kein Recht auf Entfaltung im Kreise ihrer Mitmenschen. So wird Kirsch von den Nazis anno 38 verwehrt, den Shylock ohne jüdischen Zungenschlag zu spielen.

Felix Mitterers Stück In der Löwengrube nimmt den verbürgten Fall des Schauspielers Leo Reuss zum Anlass, die schauspielerische Verwandlungskunst als Mittel der Notwehr zu erweisen. Vorher aber tönt noch ein (markierter) Buh-Orkan aus der Tiefe des Josefstädter Zuschauerraums. Der Vorhang fällt. An die Rampe eilt Direktor Meisel (Peter Scholz), dessen Beschwichtigungsversuche umso fahriger wirken, je klarer wird, dass die großdeutschen Krakeeler nicht nur heute, sondern auch die nächsten Jahre seine zahlenden Besucher sein werden.

Stephanie Mohrs feine Neuinszenierung der Löwengrube folgt Mitterers brachialer Fabel mit wahrer Engelsgeduld. Nachdem der Hall- und Resonanzraum ein- für allemal festgelegt ist, können die Figuren Tiefe entwickeln.

Mag Kirsch ein Daniel aus der Bibel sein, der mit neuer Identität als Ötztaler Bauer aus freien Stücken zurück in die Löwengrube steigt – die hier versammelten Theaterbediensteten gleichen eher Jona im Bauch des Wals. Die finstere Hinterbühne (Ausstattung: Miriam Busch) wird mehr und mehr zur Verwahrstätte für Verhaltensauffällige, die halt das Pech haben, vor den neuen Machthabern, voran dem hinkenden Propagandaminister Goebbels (Claudius von Stolzmann), kuschen zu müssen. Als weiser Prospero fungiert allein der wettergegerbte Bühnenmeister Eder (Alexander Strobele).

Mitterers Drama ist auf den ersten Blick die Erzählung einer kuriosen Fabel. Der historische Reuss verwandelte sich in einen blondierten "Musterarier". Als schauspielerisches Naturtalent ließ er sich von Max Reinhardt zu Ernst Lothar an die Josefstadt vermitteln, wo seine Identität alsbald aufflog. Auf den zweiten, nachdenklichen Blick enthält das Stück eine geradezu hasserfüllte Polemik auf die Verbiegungskünste, die das Wesen des Schaustellergewerbes (auch) ausmachen.

Höllrigl spuckt als hochalpin verkleideter Kirsch Gift und Galle. Er lügt und betrügt und liefert die Mitläufer und "kleinen" Nazis alle selbst ans Messer. Teichtmeister spielt nicht nur um das Leben der Figur Kirsch. Er zeigt buchstäblich die Überwindung, die es kostet, unter lauter Charakterschwachen selbst das größte Schwein zu sein. Fast scheut man sich zu sagen: Kirsch findet Freude an seinem überlebensnotwendigen Mummenschanz.

Gegen Nazi-Würstchen

Er kann dabei zusehen, wie kleine Nazi-Würstchen (Alexander Absenger) auf seine Initiative hin bis auf die nackte Haut entblößt werden. Er kann seine Ex-Frau (Pauline Knof) bei der gewissenlosen Verwaltung ihrer Tragödinnenposen beobachten. Kirsch gibt den Wilhelm Tell – und obendrein auch noch den unverbildeten Volksgenossen. Irgendwann macht er vor Goebbels einen Buckel und lässt sich vom mephistophelischen Verführer seiner Frau irgendein Gefälligkeitsgutachten auf einen Zettel kritzeln.

Mohr scheut jeden Anflug von Versöhnung. Umso herzzerreißender der Beifall für den heuer 70 Jahre alt gewordenen Mitterer, der vom Kulturstadtrat das Goldene Verdienstzeichen der Stadt Wien überreicht bekam. Mitterers notorische Bescheidenheit passte gut zum 15. März – dem Tag, an dem vor 80 Jahren ein anderes Großmaul vor Zehntausenden am Heldenplatz sein Gebrüll anstimmte. (Ronald Pohl, 16.3.2018)