Die Gestik sitzt, doch Substanz kann der Beobachter im bisherigen Schaffen des Kanzlers wenig entdecken.

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Sebastian Kurz war eben oben angekommen, da stieg er hinab nach ganz unten. Drei Tage nach seiner Angelobung besuchte der Kanzler den Suppenbus der Caritas, plauderte zwanglos mit Obdachlosen, stand für weihnachtsstimmungsvolle Fotos parat. Gastgeber Michael Landau störte der Rummel nicht, schließlich hat Kurz die mobile Ausspeisung stets unterstützt – und eine Gelegenheit, dem Regierungschef ins Gewissen zu reden, bot sich obendrein. Die türkis-blaue Arbeit werde daran zu messen sein, sagte der Präsident der Hilfsorganisation, "ob die Schlange vor unserem Bus länger oder kürzer wird".

Caritas-Chef: Auf Leute ohne Lobby wird vergessen

Es dauerte keine drei Monate, da hatte Landau dem praktizierenden Katholiken im Kanzleramt wieder etwas zu sagen, diesmal aber in einem weniger amikalen Ton. "Eindringlich" warnten die Caritas-Leiter per Brief vor der schrittweisen Demontage des Sozialstaates: "Hier wird auf die kleine Frau, den kleinen Mann vergessen, die keine Lobby haben."

Wächst die Schlange also bereits? Zeit für eine erste Bilanz: In der Osterwoche wird es 100 Tage her sein, dass Kurz das mächtigste Amt der Republik übernahm, schwer beladen mit hochgejazzten Erwartungen von allen Seiten. Fans sehen in ihm den mutigen Modernisierer, der ein bürokratisch gelähmtes Land umkrempeln werde, Feinde den neoliberalen Kahlschläger, der den Schwachen das soziale Netz unter den Füßen wegziehe. Doch welches Bild zeichnen seine Taten?

Es sind handfeste Sparmaßnahmen, die einen Aufschrei provoziert haben. Das Arbeitsmarktservice soll für Förderprojekte um 588 Millionen weniger ausgeben als von der alten rot-schwarzen Koalition zugesagt. Kein Grund für Alarmismus, pariert die Regierung, schließlich sinke auch die Zahl der Arbeitslosen – und tatsächlich: Laut den kolportierten Plänen dürfte pro Klient sogar mehr Geld parat stehen als im Vorjahr.

Kurz und die Kürzungen

Sehr wohl werden aber bereits geplante oder angelaufene Programme eingestampft und eingedampft. Das gilt für zwei Prestigeprojekte der ehemaligen Kanzlerpartei SPÖ. Dem (nicht aus dem AMS-Budget gespeisten) Beschäftigungsbonus weint dabei kaum ein Experte nach, dieses Zuckerl gilt angesichts der boomenden Wirtschaft als überflüssig. Stärker scheiden sich die Geister an der Aktion 20.000, die ältere Langzeitarbeitslosen helfen soll.

Beim AMS selbst gab es von Anfang an Zweifel daran, dass Betroffene über befristet geförderte und oft abseits der Privatwirtschaft angesiedelte Jobs ein dauerhaftes Comeback schaffen könnten, au ßerdem galten die angepeilten 20.000 Stellen als utopisch. Helmut Mahringer vom Wirtschaftsforschungsinstitut hingegen teilt zwar einige Bedenken, schließt jedoch aus ähnlich gelagerten Projekten, dass die Aktion so manchem Leidtragenden sehr wohl eine reelle Chance geboten hätte: "Das sollte man nicht einfach als Beschäftigungstherapie abtun."

Kürzungen bei Flüchtlingen

Bei anderen Sorgenkindern, den Flüchtlingen, wird ebenso gekürzt, und das auch im Vergleich zum Vorjahr. Die Ausgaben für das Integrationsjahr und Qualifikation sollen drastisch sinken – obwohl die Zahl der arbeitslos gemeldeten Flüchtlinge wächst. In der Logik der ÖVP sollen künftig stärkere Anreize – also geringere Sozialleistungen – dafür sorgen, dass Asylberechtigte am Arbeitsmarkt Fuß fassen. Anders die Auslegung des Kritikers Landau: "Da sollen Flüchtlinge einen Beitrag für die Gesellschaft leisten, bekommen aber nicht die nötige Hilfe. Das passt nicht zusammen."

Die Regierung übersehe die Bürger "am brüchigen Rand der Gesellschaft", sagt der Caritas-Chef und nimmt da auch das Leuchtturmprojekt der ersten drei türkis-blauen Monate nicht aus. An sich sei die Idee des Familienbonus ja gut, sagt er – "wenn nicht just jene Familien, bei denen Druck und Not am größten sind, am schlechtesten aussteigen würden".

Tatsächlich ist das Modell so konstruiert, dass sich die vollen 1.500 Euro Steuerentlastung erst ab einem Monatsverdienst von 1.750 Euro brutto einstellen – wofür Einzelne in der Regel Vollzeit arbeiten müssen. Dass die "Leistungsträger" – ein Schlüsselbegriff aus Kurz' ideologischem Repertoire – entlastet werden, löst der Bonus folglich ein. Fakt ist aber auch: Ein Drittel der Arbeitnehmer geht leer aus, weil es so wenig verdient, dass keine Lohnsteuer anfällt. Die angekündigte Kompensation für diese Gruppe liegt mit 250 Euro pro Kind weit niedriger und gilt nur für jene, die allein verdienen oder erziehen.

Kurz und die Klientel

Der Familienbonus ist auf die klassische ÖVP-Wählerschaft zugeschnitten – aber auch weit von einer "knallharten Umverteilung von unten nach oben" à la Donald Trump entfernt, wie der Politologe Laurenz Ennser-Jedenastik urteilt. Die im Gegenzug auslaufende Möglichkeit, Kinderbetreuungskosten bei der Steuer geltend zu machen, hat Betuchte stärker bevorzugt, außerdem gilt: Das Mittelschichtsgeschenk bleibt Kleinverdienern zwar verwehrt, stellt diese aber nicht schlechter als bisher – solange die Koalition nicht zwecks Finanzierung Sozialleistungen streicht.

Auch andere Kurz-affine Gruppen können sich kaum beklagen, vom Hoffnungsträger vergessen worden zu sein. Hoteliers freuen sich über eine niedrigere Mehrwertsteuer, Bauern über erlassene Sozialbeiträge. Die Unternehmerschaft bekam das Wohl des Standortes als Staatsziel in die Verfassung geschrieben, was allerdings nach "hilft's nix, schadt's nix" klingt. Verfassungsjuristen erkennen wirkungsloses Larifari, der Thinktank Agenda Austria gnädiger einen "symbolischen Effekt".

Frage nach großem Wurf

Eine Trendwende hin zu mehr Unternehmergeist zeichne sich in anderen Vorhaben des geschnürten Standortpakets durchaus ab, lobt Agenda-Chef Franz Schellhorn, der große Wurf aber noch nicht. Den wirtschaftsliberalen Meinungsmacher beschleichen dabei gewisse Zweifel, ob Kurz einen solchen im Sinn hat: Wollte sich der Kanzler zum großen Umkrempler aufschwingen, dürfe er Notwendigkeiten wie eine Pensionsreform nicht so hartnäckig ignorieren wie bisher.

Für Rektoren eine überfällige Notwendigkeit, für die oppositionelle SPÖ ein Studienplatzfresser ist das neue Unifinanzierungsmodell, das den Zustrom an den Hochschulen auf ein bewältigbares Maß bringen will.

Das Sicherheitspaket wiederum befriedigt den Wunsch der Polizei, analog zum klassischen Telefonabhören per "Bundestrojaner" auch verschlüsselte Inhalte ausspähen zu können. Kritiker gestehen zwar zu, dass ÖVP und FPÖ den Rechtsschutz im Vergleich zum Erstentwurf verbessert haben, sehen aber weiterhin ein Einfallstor für unkontrollierte Überwachung.

Unbeirrt hat Kurz auch die separaten Deutschförderklassen für Migrantenkinder durchgedrückt – Warnungen vor Ghettoklassen hin oder her. Bemerkenswerter Nebeneffekt für eine Regierung unter einem Ex-Integrationsstaatssekretär: Laut dem STANDARD vorliegenden Informationen drohen die an den Schulen für Integration reservierten Mittel insgesamt kräftig gekürzt zu werden.

Kurz und die Wachhunde

Das letzte Wort ist erst gesprochen, wenn kommende Woche das Budget steht, doch der einzelne Minister hat im Kurz’schen Gefüge nicht eben eine machtvolle Position. Warum, erklärt ein erfahrener ÖVPler so: Die in sämtlichen Ministerien installierten Generalsekretäre sollen nicht nur das "Durchregieren" in der (roten) Beamtenschaft garantieren, sondern seien auch als "Wachhunde" für die Ressortchefs gedacht.

Für all die von Kurz geholten Quereinsteiger bedeute dies eine prekäre Lage: "Sie tragen zwar als Minister das politische Risiko, sind in Entscheidungen aber stark eingeschränkt", meint der Insider und wundert sich, dass das Modell nicht für mehr Aufsehen sorgt. Immerhin dürfen sich Generalsekretäre auf Eigenwunsch zu Beamten machen lassen: "Hätte sich Rot-Schwarz so etwas geleistet, wäre die große Postenschacherdebatte losgebrochen."

Apropos Personal: Umfärbungen hat die Regierung unter Kurz’ Ägide in den ersten drei Monaten reichlich vorgenommen, vom ORF-Stiftungsrat bis zur Bundesbahn. Greift da ausgerechnet eine Koalition, die sich einem neuen Stil verschrieben hat, besonders schamlos zu? Nicht wirklich, winkt Politikwissenschaftler Ennser-Jedenastik ab und erkennt bis dato ein Spiegelbild jahrzehntelanger Praxis: "Das ist das normale Extrem, mit dem Österreich europaweit herausragt."

Drohgebärden gegen ORF

Allerdings sind die Kämpfe um Einfluss längst nicht abgeschlossen. Ob die blauen Drohgebärden gegen den ORF in eine finanzielle Demontage münden, ist ebenso offen wie die Frage, ob die dubiosen Vorgänge um das Amt für Verfassungsschutz tatsächlich auf einen tolldreisten Umfärbungsversuch der FPÖ hinauslaufen. Der sonst sendungsbewusste Kurz glänzt in Debatten wie diesen weitgehend durch Enthaltung: nur ja keinen öffentlichen Clinch mit dem Koalitionspartner provozieren, der die Harmonie des "neuen Stils" zerstören könnte – selbst wenn das am eigenen Macherimage zehrt.

Zur Weißglut trieb der Meister der druckreifen, aber nicht immer inhaltsschwangeren Rhetorik manchen oppositionellen Abgeordneten, als er bei seiner ersten Fragestunde im Parlament zu Rauchverbot und Co verbale Bremsausweichhaken schlug. Seither üben sich Spötter auf Twitter unter dem Hashtag AnswerLikeKurz in Satire. Kostprobe: "Ich glaube, die Menschen haben das gegenseitige Anpatzen beim Essen satt und wünschen sich einen völlig neuen Stil der Nahrungszufuhr."

Pelinka: "Mikl-Leitner hat Kurz vorgeführt"

Da erinnert Kurz dann doch an jenen Vorgänger, den er sich ungern als Role-Model unterschieben lässt. Wie einst Wolfgang Schüssel, erster schwarz-blauer Kanzler, sagt er zu den Eskapaden der Freiheitlichen nur das Nötigste – und mitunter auch weniger.

"Die Grenze ist für mich das Strafrecht": Deutlicheres fiel dem 31-jährigen Regierungschef anfangs nicht ein, als die Antisemitismus-Debatte um den FPÖ-Politiker Udo Landbauer losbrach. Niederösterreichs wahlkämpfende Landeshautfrau habe ihm dann gezeigt, wie eine adäquate Distanzierung aussehe, sagt der Politologe Anton Pelinka: "Johanna Mikl-Leitner hat Kurz vorgeführt."

Mittlerweile hat der ständige Umfragenspitzenreiter auf diesem Feld Terrain zurückerobert. Präzise lief die Vorbereitung auf die Gedenkwoche zum 80. Jahrestag des "Anschlusses" an Nazideutschland, dem Vernehmen nach blieb kein Detail außer Acht. Tagelang soll ein Emissär des Kanzleramts interveniert haben, damit ja kein regierungskritischer Halbsatz in das Begleitvideo zum Staatsakt von vergangenem Montag hineinrutscht; so erzählte es zumindest ein mit dem Film betrauter Mitarbeiter dem STANDARD. Im Büro des angeblichen Kontrollfetischisten wird dies freilich als haltloses Gerücht weggewischt.

Kurz und seine Substanz

So oder so ist Kurz ein Coup geglückt. Just der Chef einer Mitte-rechts-Regierung kündigte an, was SP-Kanzler nicht auf den Weg gebracht hatten: eine Gedenkstätte, die jedes einzelne österreichische Shoah-Opfer namentlich würdigt. Wieder lässt Schüssel grüßen, der seine Regierung mit dem Washingtoner Abkommen zur Entschädigung von NS-Opfern gegen Kritik zu immunisieren versuchte. "Beim Marketing", sagt Pelinka, "ist dieser Kanzler ziemlich perfekt."

Substanz aber kann der Beobachter im bisherigen Schaffen wenig entdecken, das zeige gerade die Europapolitik. Kurz hat den französischen Staatschef Emmanuel Macron ebenso besucht wie EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Doch wie der Kanzler zu den großen Reformfragen in Europa stehe, habe er danach nicht verraten, urteilt der Politologe: "Da höre ich nur Leerformeln."

Pelinka erklärt sich das mit dem neuen Stil. Solange Kurz partout in keinen Konflikt schlittern wolle, könne er sich keine klaren Positionen leisten – das reiche von der Europapolitik, wo er rasch mit der FPÖ übers Kreuz geraten würde, bis zu einer etwaigen Föderalismusreform, die einen Krach mit den Ländern brächte. "Bis jetzt sehe ich kein Projekt, das so etwas wie die Essenz des Regierens ist", sagt Pelinka und hält deshalb auch all die markanten Zuschreibungen von Freund und Feind für überzogen: "Diese Etiketten verdient sich Sebastian Kurz allesamt nicht. Dafür ist er viel zu glatt." (Gerald John, 16.3.2018)