Emmanuel Macron, Angela Merkel und Paolo Gentiloni (von links nach rechts, örtlich nicht politisch) haben Europa zuletzt lange warten lassen (müssen). Nun wäre Tatkraft erforderlich.

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Seht ringsumher, wohin der Blick sich wendet" – lacht Europa kein Bräutigam mehr entgegen, wie es Grillparzer in Ottokar dichtete, sondern eher ein Gespenst, das aus radikalen Nationalismen geformt ist. Sei dieses nun "provinziell" wie die Basken in Spanien, sei es mit staatlicher Konzession ausgestattet wie in Ungarn, Polen, Slowakei etc.

Der Brexit

Schon vor dem Austritt der Briten war klargeworden, dass es zwar ökonomisch betrachtet kein "Europa zweier Geschwindigkeiten" geben darf, aber gleichwohl ein Europa sehr unterschiedlichen politischen Selbstverständnisses. So war bereits vor Jahren ein Stillstand in Brüssel programmiert worden. Laut durfte man das nicht sagen, denn noch waren die "Proeuropäer" medienstark genug, um alle Bedenken vom Tisch zu wischen.

Als vor 20 Jahren Hermann Lübbe geschrieben hatte, dass es die "Vereinigten Staaten von Europa nicht geben werde", war es keiner Beachtung wert, doch nun ist die "Großstadt" von Robert Menasse gewürdigt worden, obwohl Brüssel gerade noch als Verkehrsknotenpunkt einer Art neuer Meritokratie gelten kann.

Über den Zustand Europas kann viel gesagt werden, vor allem wenn man selbst die Mängel noch als Bestand des Fortschreitens der Einigung hinzuzählt. Wer hätte gedacht, dass der längst vergessene Christoph Martin Wieland wieder ans Tageslicht kommt, da er vor gut 250 Jahren gemeint hatte, den Standard der Aufklärung würde man im Fortschreiten irrationalen Wahns erkennen, denn beide bedingen einander.

Die Vulgärmaterialisten

So man diese Paradoxie auf den Zustand Europas anwenden will, so ist sicherlich die Einung der beiden "Großen" im europäischen "Westen" fortgeschritten, hingegen bleibt ab Mitteleuropa der europäische "Osten" zurück. Und niemand zerbricht sich den Kopf darüber: Weshalb?

Da gibt es zuerst einmal die "Vulgärmaterialisten", die den Rückstand ökonomisch erklären und daraus die politischen Folgen ableiten; dann gibt es die gesellschaftspolitische Analyse, die dem "Osten" die Rückständigkeit seit Zar, Kaiser und Kirche attestiert; und schließlich eine nationalistische, die den Widerstand gegen den "Westen" als Zeichen versteht, diese Multikulturalität und Vermischung samt Zuwanderungen würden die Menschen nachhaltig empören.

Die offene Gesellschaft

Vermutlich liegt der Fehler dort, dass im europäischen "Westen" ein politisches Modell Anwendung fand, das einmal Karl Popper zum Ideal offener Gesellschaft erklärt hatte – ohne auf Geschichte und Mentalitäten Bedacht zu nehmen. Da dieses Modell sich recht gut mit dem ökonomischen Modell Friedrich von Hajeks verknüpfen ließ, war man vornehmlich in Brüssel von Beginn an davon begeistert, nämlich aus der ehemaligen Wirtschaftsunion vorerst eine politische errichtet zu haben, die dann recht schnell wieder zu einem gewaltigen ökonomischen Modell verformt wurde.

Insgesamt wurde das sozialpolitische Standbein der Europäischen Union schwächer, wie auch die Kaufkraft mit den Realeinkommen in Europa sank. Eigentlich hätte niemanden die politische Dissonanz und Brisanz in Europa wundern dürfen. Würde man der Beschreibung Robert Menasses folgen, so wäre ein heftiges Nachdenken und Nachjustieren der diversen EU-Verträge in Brüssel selbst zu erwarten.

Der Dreißigjährige Krieg

Da nun Martin Schulz in Berlin glücklos agierte, gibt es aus Brüssel keine "Stimme" mehr, für die sich Jean-Claude Juncker ohnehin zuweilen ungeeignet zeigte. Und eine eigenständige EU-"Außenpolitik" ist im Zustand einer "Reichspolitik" während des Dreißigjährigen Krieges.

Also wird niemand das Problem bedenken, wie diese europäische offene Gesellschaft eine stabile und zeit- sowie europagemäße Form bekommen soll. Das Faszinosum einer offenen Gesellschaft, die sich als Alternative für 1933/34/38 einmal konzipieren ließ, müsste reformiert werden. Das bedeutet, was Verfassungsjuristen in gleicher Weise zu beschäftigen hätte wie auch Sozialwissenschafter: Wie ist der Fortgang der Demokratie bei Berücksichtigung der ethnischen, sozialen und kulturellen wie historischen Bedingungen (und Verletzungen) zu sichern?

Oder sollte man sich in der Europäische Union nicht ernsthafter und offiziell zur Vermeidung weiterer Chauvinismen der Frage widmen, aus wie vielen Völkern ein Staatsvolk besteht – was der Frühhistoriker Herwig Wolfram beredt beschrieben hat.

Das Bewusstsein stabilisieren

Damit könnte man beginnen, jenes – offenbar irritierte – Bewusstsein der Menschen in Europa wieder zu stabilisieren, wovon man einmal geträumt hatte. Offenbar weiß man nichts in Brüssel darüber, dass es Europa als gedachte historisch-politische Konstruktion mindestens seit der Renaissance gegeben hat, wobei die Bezeichnung "Europa" unter Maximilian I. erstmals in der Zeitschrift Theatrum Europaeum erwähnt wurde.

Gibt es in Brüssel denn überhaupt einen aufmerksamen Leser jener Buchreihe "Europa bauen", die der französische Historiker Jacques Le Goff als Herausgeber begleitet? (Reinhold Knoll, 19.3.2018)