Es gibt da einen Satz: "Einen langen Lauf verliert man am Start – und gewinnt ihn am Schluss." Ich habe keine Ahnung, wie oft ich ihn schon gehört und gesagt habe, aber ich weiß, dass er stimmt: Es ist hirnrissig, am Anfang Gas zu geben, wenn man nicht zu 150 Prozent sicher ist, dieses Tempo bis zum Schluss durchhalten zu können. Das ist eine Binsenweisheit, eine der Metaphern des Laufens für fast alles im Leben. Nicht nur im Wettkampf: Körner, die man zu früh verbrennt, fehlen einem am Schluss. Nicht nur die paar Hanseln, die man da auf den ersten Kilometern abhängt, überholen einen im letzten Drittel, sondern auch noch viele, viele, viele andere. Und das zu Recht.

"Es ist eine Frage der Rennintelligenz", ätzte einer auf Facebook am Sonntagnachmittag als ich gestand, soeben einen Lauf komplett versemmelt zu haben.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich war im Prater beim dritten Lauf der Eisbärlaufcup-Serie einen Halbmarathon gelaufen, und schon wenige Meter nach dem Start hat mir jemand fragend-warnend nachgerufen: "Na, der Herr Rottenberg hat es heute aber ganz schön eilig …"

Overpacen nennt man das: Gas geben, sobald der Start freigegeben ist. Sich an die falsche Gruppe anhängen. Versuchen, an Leuten, die einen Tick schneller sind als man selbst ist, dranzubleiben. Losrennen und alle Taktik, jedes Konzept kübeln: der große Anfängerfehler. Um zu lernen, wie man ihn vermeidet, starten Leute, die sich auf erste, große und wichtige Läufe vorbereiten, vorher bei kleineren Events. Weil "Learning bei Einfahring" weniger schlimm ist als "Eingehing" bei einem Lauf, auf den man sich eigentlich freut.

Foto: Thomas Rottenberg

Eigentlich hätte hier heute eine ganz andere Geschichte stehen sollen. Die von den "geheimen" öffentlichen Spinden im Prater. Aber die Dinger sind nächste Woche hoffentlich auch noch da – die Winterlaufserien von VCM und LCC aber nähern sich dem Ende. Und auch wenn man so wie ich heuer nicht beim Vienna City Marathon läuft, sind die Trainingsläufe im Prater eine gute Möglichkeit zur Standortbestimmung: Wer nur ein bisserl systematisch, egal ob mit selbstgestrickten, aus dem Netz geladenen oder vom Trainer verordneten Plänen läuft, will meist irgendwann wissen, was das bringt, ob man besser wird, ob sich das Laufen anders anfühlt. Das geht am besten auf vergleichbaren Strecke und unter vergleichbaren Bedingungen.

Foto: Thomas Rottenberg

Freilich: Das Wetter macht einem bei erhofften Laborbedingungen oft einen Strich durch die Rechnung. Dass es von Jänner zum März graduell angenehmer und milder werden sollte, stimmt nur auf dem Papier. Waren wir vorletzten Sonntag kurz/kurz (also mit kurzen Ärmeln und Hosenbeinen) unterwegs gewesen, hatte sich letzte Woche der Winter zurückgemeldet: Als Eva und ich am Samstag unsere Startnummern holen liefen, schneite es waagrecht. "Nicht einmal den Hund …" motzte Eva – anfangs.

Denn wir wissen beide, dass es selten lange dauert, bis die wärmenden Sachen im Rucksack landen. Auch wenn man nur eine gemächliche Beineausschüttelrunde läuft: Zu viel anzuhaben kann genauso bremsen wie zuwenig – und unerfahrene Läuferinnen und Läufer haben meist viel zu viel an. Nur: Für morgen, Sonntag, waren minus 6 Grad angekündigt.

Foto: Thomas Rottenberg

Ganz ehrlich? Ich hatte genau keine Lust auf diesen dritten Eisbär. Ich mag es frisch – aber die ersten Frühlingsläufe zeigten, dass Sonne und Wärme doch auch was wert sind. Übers Wetter jammern nutzt aber nix, es macht das Elend nur schlimmer. Aber wenn ich nicht am Samstag für meine Teamkollegen Startnummern abgeholt hätte und die sich drauf verlassen hätten, dass sie die Dinger am Sonntag auch bekommen würden, wäre ich daheim geblieben.

Dass das auch für die Kolleginnen und Kollegen eine gute und eventuell willkommene Ausrede gewesen wäre? Jo eh, aber Gruppendynamik ist Gruppendynamik. Und zum Kleinkriegen des inneren Schweinehundes gehört auch der Druck eines Trainingsplanes: "Halbmarathon. Und zwar voll, also nicht einfach mit irgendwem gemütlich Spazieren laufen", hatte Harald Fritz mir verordnet. Er hat leicht reden: Er ist gerade in Äthiopien auf Trainingscamp, dort ist es eine Spur wärmer.

Foto: Thomas Rottenberg

Meine Lust, trotz Einlaufens, zehn Minuten im Startblock zu bibbern und dann nochmal zehn oder zwölf Minuten zu brauchen, bis ich auf Betriebstemperatur sein würde, war, höflich gesagt, enden wollend.

Wir waren rund eineinhalb Kilometer locker gelaufen, hatten dann unsere dicken Jacken rasch in die Autos geworfen (das griffbereite Deponieren von Anorak und Co ist für mich an solchen Tagen ein absolut zulässiger Grund, mit dem Wagen in den Prater zu fahren) – und hofften nun mit allen anderen Läuferinnen und Läufern, dass wir bis zum Start nicht komplett einfrieren würden.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich hatte in meiner Lustlosigkeit die Weichei-Option gewählt – und stand nicht nur wie eigentlich geplant mit zwei T-Shirt-Schichten, Ärmlingen, Mütze und Handschuhen im Block, sondern hatte auch noch Jacke und Halstuch an. Fehler eins, denn kalt war mir, eh klar, trotzdem.

Außerdem stellte ich mich ganz gegen meine Gewohnheit im vorderen Drittel auf, zwischen den Schnellen und den Ehrgeizigen – Fehler zwei. Neben mir stand Thomas Madreiter. Wiens Stadtplanungsdirektor ist ein schneller und routinierter Marathonläufer. Auch er jammerte ein bisserl über seine heutige Wettkampflustlosigkeit: Ich dachte, er würde es deshalb für seine Verhältnisse eher gemütlich und langsam angehen, fragte aber nicht: Fehler drei.

Foto: Thomas Rottenberg

Start. Wie immer drückten die Ehrgeizler vorne gleich mal ordentlich an. Später am Abend habe ich mir das Startvideo angesehen: Viele Siegerinnen und Sieger der unterschiedlichsten Klassements, insbesondere der längeren Strecken (es wurden 7, 14, 21 und 28 Kilometer gelaufen), kamen erst nach dem ersten Viertel oder sogar im zweiten Drittel über die Startlinie. Mit Gründen: Wer am Anfang Gas gibt ... hatten wir das schon?

Ich starte sonst auch lieber so. Auch weil es motivierender ist zu überholen, als überholt zu werden.

Foto: Thomas Rottenberg

Fehler vier: Ich schaute, dass ich mit Thomas Madreiter Schritt hielt, und überholte mit ihm gleich einmal ein Schüppel jener Leute, bei denen ich mich auch sonst frage, wieso sie sich aus Prinzip ganz vorne hinstellen – und dann mit einer 6er-Pace gemütlich und natürlich nebeneinander lostraben. (Die vermummte Dame im Bild ist kein Mitglied dieser Vornewegschleicher).

So weit, so gut: Um diese Klippen zu umschiffen, kann man schon mal kurz aufdrehen. Nur: Ich blieb am Wiener Planungsdirektor kleben – und bekam erst nach rund einem halben Kilometer mit, dass er eine 4'10"-er Pace anlief. 4'30" hatte ich für mich angedacht gehabt, bestenfalls. Am Anfang aber langsamer, deutlich langsamer.

Foto: Thomas Rottenberg

Mir war kalt. Ich wollte, dass sich das ändert. Bewegung wärmt. Weiter dachte ich nicht. Aber plötzlich war ich vor Monika Kalbacher. Das ist nie ein gutes Zeichen: Meine Teamkollegin ist derzeit in Hochform – und wird immer besser. Hatte ich vor einem halben Jahr noch halbwegs mit ihr mithalten können, ist davon heute keine Rede mehr: Moni hat, das nur nebenbei, die Eisbär-Laufcup-Halbmarathonwertung heuer gewonnen. Keine Frau, die alle Halbmarathons der Serie gelaufen ist, war schneller als sie. Ganz abgesehen davon weiß ich: Wenn ich Moni überhole, noch dazu zu Beginn eines Laufes, hat sie entweder ein Problem, will mich frotzeln – oder ich mache etwas falsch. Sehr falsch. Ich ging vom Gas, ließ Madreiter und Kalbacher ziehen, dachte, das müsse jetzt also passen. Aber von allen und jedem wollte ich mich dann auch nicht überholen lassen: Fehler fünf.

Foto: Thomas Rottenberg

Keine Ahnung, ob es die Kälte war oder sonstwas, aber als mir klar wurde, was ich da gerade für einen Stiefel zusammenrannte, war es zu spät: Vier Minuten 16 pro Kilometer mit dem Wind, 4'20 gegen ihn? Das bin ich nicht. Nicht auf die Halbmarathondistanz. Schon gar nicht, wenn ich zu dick und luftdicht eingepackt bin: Mir ging es elend. Ich gab auf: "Das wird mein erstes DNF," sagte ich zu Mischa, dem Mann, den ich beim letzten Eisbärlauf zu seiner Halbmarathon-PB gepaced hatte und der heute einen tollen 14er hinlegte.

Ich meinte es auch, aber die erste Runde würde ich fertiglaufen und dann eventuell langsam in die zweite traben: Ich war unter der Windjacke mittlerweile nassgeschwitzt, meine Wechselsachen lagen im Auto. (Fehler sechs.) Den Schlüssel hatte Eva: Sie lief den 14er und wäre, so der Plan, lange vor mir fertig. Würde ich nach 30:16 (meiner Sieben-Kilometer-Durchlaufzeit) im Ziel auf sie warten, wäre ich tiefgefroren, bis sie da wäre: In Bewegung würde mir zwar auch kalt werden, aber es wäre nicht tödlich.

Foto: Thomas Rottenberg

Doch plötzlich war Wolfgang da. Wolfgang ist einer meiner besten Freunde. Er war auf seiner normalen Sonntagslongjogrunde. "Vielleicht sehen wir uns ja", hatte er am Samstag noch gemeint. Jetzt war er da und trabte neben mir: Solange man die Leute in einem Wettkampf weder stört, behindert oder blockiert, ist das auf nicht abgesperrten Strecken okay. Eine Frage des Fingerspitzengefühls: Wolfgang war einfach da. Und auch wenn ich nicht plaudern konnte, tat das gut: "Ich sterbe." – "Dann geh runter vom Gas." – "Ich geb auf, ich hab's verbockt." – "Schau ma mal. Aber geh jetzt mal mit der Pace runter – und renn um Himmels Willen gleichmäßig!"

Irgendwie (und zwar ohne Windschattengeben und ähnliche Hilfestellungen) brachte er mich durch die zweite Runde (Durchlaufzeit: 1:01.46). "Tom, sorry, aber ich muss jetzt abbiegen: Mittagessen mit den Schwiegereltern…" – "Danke. Liebe Grüße. Ich lauf jetzt einfach aus, sonst erfrier ich." Weg war er.

Foto: Alexandra Madreiter

Der Mensch ist ein seltsames Tier. Wenn nix mehr geht, schaltet sein Körper irgendwann auf Autopilot. Dann wird sogar ein Rhythmus- oder Tempowechsel nach unten fast unmöglich. Ich lief also weiter. Genauer: Es lief. Dass das funktioniert, ist jedes Mal aufs Neue eine spannende Erfahrung. Vermutlich die einzig positive, die ich aus diesem Lauf mitnehme.

Ich vermied es, auf den letzten Kilometern auf die Uhr zu schauen. Wozu auch? Ich wusste, spürte und sah ja, was passierte: Auf der letzten halben Runde wurde ich permanent überholt – von Läuferinnen und Läufern, die ich am Anfang hatte stehen lassen. Von Läuferinnen und Läufern, die weit hinter mir ins Rennen gegangen waren. Von Läuferinnen und Läufern, die ihr Rennen diszipliniert und systematisch angelegt hatten – also alles richtig gemacht hatten, weil sie sich nicht auf den ersten Kilometern selbst vernichtet hatten. Weil sie sich nicht an die Fersen von jemandem gehängt hatten, der schlicht und einfach schneller ist.

Foto: Eva Lillan

Im Ziel war ich dann fertig und stinksauer – versuchte aber, mir nix anmerken zu lassen. Ich habe nämlich gegen den einzigen Gegner abgebissen, der zählt: gegen mich selbst. Weil ich exakt alles falsch gemacht hatte, wider besseres Wissen. Ob eine bessere Zeit dringewesen wäre? Keine Ahnung, vielleicht, vermutlich. Egal. Denn Hättiwari ist nur in einer Hinsicht relevant: Der Lauf hätte keine Qual sein müssen, hätte Spaß machen können – trotz der Kälte. Und daran ist nur einer Schuld: ich.

Es gibt da einen Satz: "Einen langen Lauf verliert man am Start – und gewinnt ihn am Schluss." Quod erat demonstrandum.

Das Ergebnis auf Pentek.

(Thomas Rottenberg, 21.3.2018)

Mehr Lauf- und Trainingsgeschichten gibt es auf www.derrottenberg.com.


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Foto: Thomas Rottenberg