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Caruana: "Das hätte ich sehen müssen."

Foto: ap/leanza

Berlin – Dienstag Abend hat Wladimir Kramnik genug und schwänzt die Pressekonferenz. Ein weiteres Mal spielt der Ex-Weltmeister gegen Sergei Karjakin zuvor mit Schwarz wild auf Sieg, investiert dabei einen ganzen Turm in seinen Königsangriff – es hilft alles nichts. Karjakin wehrt die Drohungen gekonnt ab, baut mit seinem Mehrmaterial einen Schutzwall vor seinem König und wartet geduldig, bis Kramnik die aktiven Züge ausgehen. Dann tauscht er Figuren, bis von Kramniks Angriff nichts mehr übrigbleibt, und streicht damit mühelos den vollen Punkt ein.

Bei der Pressekonferenz ist Karjakin alleine anwesend, strahlt und analysiert aber gerne für zwei: Nach katastrophalem Start hat der russische Vizeweltmeister jetzt wieder die 50- Prozent-Marke erreicht. Wer weiß, vielleicht geht da noch was? Kramnik hat das Gebäude zu diesem Zeitpunkt schon verlassen. Aus seinem Auf und Ab, dessen Intensität er zwei Runden zuvor noch als Würze des Lebens lobte, ist ein freier Fall geworden. Es wird interessant zu sehen sein, ob Kramnik nun die Notbremse zieht und versucht, die übrigen Partien des Turniers abzuremisieren, oder ob er weiter mit dem Kopf gegen Berliner Backsteinmauern anrennt.

Kasparows langer Schatten

Karjakins Sieg bleibt die einzige entschiedene Partie der neunten Runde, und das ist eine gute Nachricht für jene Teilnehmer, die noch darauf hoffen, Fabiano Caruana irgendwann einzuholen. Denn der US-Amerikaner ist gegen Chinas Ding Liren lange Zeit ganz nah dran an seinem vierten Sieg, mit dem er vor seinem Aufeinandertreffen mit Shakhriyar Mamedyarov in Runde zehn einen vollen Punkt zwischen sich und seinen ersten Verfolger legen könnte.

Zwar verteidigt Ding wie schon so oft in diesem Turnier lange Zeit hervorragend, am Ende gibt er aber doch ein wenig Milch. In einem Endspiel, das in seiner Materialkonstellation frappant an die bekannte historische Partie Kasparow – Petrosjan, Niksic 1983 erinnert (die Weiß gewann), hat Caruana die bessere Struktur sowie die aktiveren Figuren. Die Ungleichfarbigkeit der Läufer, sonst im Endspiel oft Remisgarant, akzentuiert den weißen Vorteil noch, weil sie trotz reduzierten Materials Mattideen gegen den schwarzen König ermöglicht.

Klingt eigentlich genau nach der Art von Mix, bei dem sich ein Spieler von Caruanas Klasse nicht zweimal bitten lässt. Aber an diesem Tag fehlt irgendetwas – zum Beispiel taktische Kaltblütigkeit unter den Bedingungen höchster Zeitnot. Als ihm vor dem 66. Zug nur noch wenige Minuten für die Vollendung der Partie verbleiben, übersieht Caruana die Pointe der Möglichkeit 66.Sf8+ Kg8 67.h6 Kxf8, nämlich 68.h7!, was die sofortige Aufgabe seines Gegners zur Folge hätte. Stattdessen schickt Weiß sich nach 66.Te5? Le8 67.e7 ins Remis.

Aufklärung

Bei der darauffolgenden Pressekonferenz stehen Moderatorin Anastassija Karlowytsch sowie der Rest des Auditoriums wieder einmal vor der Frage: "Wie sag ichs meinem Kinde?" Natürlich haben die mitrechnenden Computerprogramme den verpassten Sieg sofort angezeigt, natürlich muss Caruana mit der Frage konfrontiert werden, ob er die relevante Variante gar nicht gesehen, oder nur ein Detail verpasst hat. Zugleich fühlt sich diese "Überlegenheit" der Beobachter gegenüber den besten Schachspielern der Welt jedesmal aufs Neue peinlich an. "Das ist der Moment!", ruft jemand aus dem Auditorium aufgeregt mit gezücktem Smartphone, als die Analyse der Kontrahenten den kritischen Punkt erreicht. "Der Moment wofür?", fragt Caruana entgeistert, dem allerdings zu dämmern scheint, dass ihm gleich eine Computervariante um die Ohren gehaut werden wird.

Im Endeffekt nimmt es der Italo-Amerikaner – was bleibt ihm anderes übrig? – sportlich, auch wenn er selbstkritisch anmerkt: "Das hätte ich sehen müssen." Immerhin ist der Ausgang des Turniers damit weiterhin völlig offen. Da auch Mamedyarov gegen Aronjan sowie Grischtschuk gegen Wesley So remisieren, verändert sich die Konstellation an der Tabellenspitze vorläufig nicht. Am Mittwoch wird geruht, am Donnerstag steigt dann das womöglich vorentscheidende Spitzenduell, in dem Mamedyarov gegen Caruana die weißen Steine führt. (Anatol Vitouch, 21.3. 2018)