Nordöstlich von Paris, in der kleinen Gemeinde von Le Pré-Saint-Gervais. Hier geht es um neun Uhr in der Frühe ruhig und beschaulich zu. Eine schmale Straße, mit einer Bäckerei an der Ecke, führt zu einem Wohnhaus aus den Fünfzigerjahren mit breitem Treppenaufgang und schwerer, schwarzer Messingtür. "Pierre Commoy et Gilles Blanchard" ist an einem der Klingelschilder zu lesen.

Sobald man geläutet hat, ertönt Hundegebell, kurze Zeit später öffnet der Fotograf Pierre Commoy die Eingangstür. Erstaunlich klein ist Pierre, erstaunlich stark tätowiert, erstaunlich drahtig und muskulös für seine 68 Jahre. Man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, sobald man die Wohnung, eine Art indischen Kitschpalast, betreten hat. "Kaffee?", fragt er, zieht an seiner Zigarette und versucht, seinen bellenden Jack Russell zu beruhigen.

Kennengelernt haben sich Pierre Commoy und Gilles Blanchard Mitte der Siebzigerjahre. Seither ist das Künstlerduo unzertrennlich.
Fotos: PIERRE Et GILLES

Aus einem der Nebenräume erscheint der Maler Gilles Blanchard und fordert zu einer Tour durchs Haus auf. Auch er ist gut trainiert und üppig tätowiert, trägt dunkle Jeans, T-Shirt und eine Dreimillimeterfrisur. Schon in der Küche beginnt die Farbexplosion, die man aus den Arbeiten von Pierre et Gilles (so nennt sich das Künstlerduo) kennt. Überall Mosaike, Girlanden, goldene Wände, Wendeltreppen und Torbögen statt Türen.

Ein kleines Glashaus steht als Atelier für Gilles in einem riesigen Raum. Und dann die Pflanzen! Sie schlängeln sich scheinbar durch alle Räume und bis zur Decke und verwandeln die 300-Quadratmeter-Wohnung in ein eigenes Universum.

An einer Wand ist dennoch Platz. Für signierte Fotografien von Isabelle Adjani, Jean Paul Gaultier, Kylie Minogue und vielen mehr. Und Stars, die Pierre und Gilles als Heilige, Märchenfiguren oder mythologische Wesen porträtiert haben. Populär wurde das Duo nicht nur mit diesen Arbeiten, sondern auch mit ihren Fantasiebildern von nackten, retuschierten Männern oder weinenden Matrosen. Der Schwulenszene Frankreichs der Achtzigerjahre verhalfen sie mit diesen Bildern zum Outing.

"Nationale 7", Pierre et Gilles, 2015: ein Selbstporträt des Künstlerduos hinterm Steuer.
Fotos: PIERRE Et GILLES

STANDARD: Seit wann leben Sie in dieser Wohnung?

Gilles Blanchard: 1991 sind wir aus der Pariser Innenstadt hierhergezogen. Zuerst hatten wir eine relativ kleine Wohnung, aber über die Jahre hinweg haben wir die Nebenwohnungen dazugekauft, später eine im ersten Stock und dann auch den Keller, in dem sich unser Fotostudio mit verschiedenen Sets und Props befindet.

STANDARD: Wie haben Sie sich kennengelernt?

Gilles: Auf einer Party des Designers Kenzo. Es war Liebe auf den ersten Blick. Pierre brachte mich dann auf seiner Vespa nach Hause, seit diesem Abend sind wir unzertrennlich. Das war vor 40 Jahren.

STANDARD: Und wann haben Sie das erste Mal zusammengearbeitet?

Pierre Commoy: Gleich ein paar Monate später. Gilles hatte Malerei in Le Havre studiert, seine Arbeiten waren meist Collagen oder Ölmalerei. Ich habe hauptsächlich Porträtfotos gemacht. Eines Tages meinte er, es würde doch gut aussehen, wenn er die Fotos durch Malerei verstärken und verändern würde. Schon davor hatten wir uns gegenseitig beraten und Tipps gegeben. Irgendwann hat es sich ganz selbstverständlich angefühlt, diese Porträts gemeinsam zu gestalten.

STANDARD: An einer Ihrer Wände hängen ausschließlich Fotos, auf denen Sie beide abgebildet sind. Hat Ihre gemeinsame Arbeit mit Selbstporträts begonnen?

Gilles: Eigentlich nicht, obwohl wir immer wieder Selbstporträts machen. Diese Fotos sind auf unseren vielen Reisen entstanden. Egal wo wir waren, ließen wir uns immer in lokalen Fotostudios fotografieren. Unsere ersten Reisen gingen nach Indien und Marokko. Die Farbenpracht dieser Länder beeinflusste unseren Stil. Es gab dort fantastische kleine Fotostudios. Und diese Zeremonien, wenn ein Foto geschossen wurde! Es war alles sehr feierlich. Dort konnte man verschiedenste Hintergründe, Dekors, Kostüme und Accessoires wie Hüte wählen. In Paris gab es diese Studios auch. Heute sind leider so gut wie alle verschwunden. Unser erstes eigenes Studio war zu Beginn nur dreißig Quadratmeter groß. Heute haben wir viel mehr Platz zur Verfügung, um unsere Welten aufzubauen.

Pierre: Als wir uns kennengelernt haben, konnten wir an keinem Fotoautomaten vorbeigehen, ohne uns darin fotografieren zu lassen. Diese kleinen, perfekten Fotostudios waren einfach toll. Manche hatten bunte, zum Teil sehr theatralische Kulissen.

STANDARD: Sie haben schon in den Achtzigerjahren makellose Menschen in idealisierter Form dargestellt. Damit haben Sie dem Instagram-Zeitalter vorgegriffen.

Gilles: Pierre und ich waren immer von der Porträtmalerei diverser Jahrhunderte fasziniert. Und natürlich von den Persönlichkeiten, die wir im Laufe unseres Lebens kennengelernt haben. Mit manchen haben wir ganz bestimmte Dinge assoziiert: So wie zu Jean Paul Gaultier das Streifenshirt und der Eiffelturm gehören, so stellt Catherine Deneuve für uns eine Königin dar.

Tatsächlich fingen Pierre et Gilles schon lange vor Photoshop an, Bilder von Hand zu retuschieren: Ende der Siebzigerjahre wurden Bilder so gut wie nie überarbeitet. Die beiden arbeiteten für Zeitungen und Magazine wie "Gai Pied", "Playboy" und "Façade". 1979 porträtierten sie den Modedesigner Thierry Mugler und entwarfen Einladungen für seine Modenschauen. 1980 gestalteten sie ihr erstes Singlecover für Amanda Lears Song "Diamonds for Breakfast". Es folgten zahlreiche Albumcover, zum Beispiel für Nina Hagen oder für den englischen Sänger und Komponisten Marc Almond, mit dem sie 1990 auch das Musikvideo "A Lover Spurned" (darin wird die zurückgewiesene Geliebte von dem transsexuellen Pariser Marie-France dargestellt) drehten.

Als Conchita Wurst 2014 den Eurovision Song Contest gewann, war sie reif für ein Porträt namens "Crazy Love".
Fotos: PIERRE Et GILLES, "Crazy Love", Conchita Wurst, 2014

STANDARD: Hatten Sie künstlerische Vorbilder?

Gilles: Andy Warhol hatte mit seiner Lebensweise einen sehr großen Einfluss auf uns. Er war einer der Ersten, die ihre Homosexualität nicht verstecken wollten. Ganz im Gegenteil, er integrierte sie in seine Arbeit, drehte provokante Filme und stellte Kunst in einem ganz neuen Licht dar. Warhol umgab sich mit seinem eigenen Clan. Wir fotografierten ihn für das Magazin "Façade" – das war der Anfang unserer Karriere und unserer gemeinsamen Arbeit. Für das Magazin porträtierten wir später auch Mick Jagger und Iggy Pop.

Pierre: ... auch James Bidgoods Arbeiten und sein Film "Pink Narcissus" beeinflussten uns.

STANDARD: Dessen Arbeit steht wie Ihre für eine schwule Ästhetik. Gibt es die?

Gilles: Es gibt eine homosexuelle Sensibilität.

Pierre: Wir bekommen oft Briefe von jungen Menschen, die sich für unsere Arbeit bedanken und uns schreiben, wie viel sie ihnen bedeutet und dass sie ihnen Mut macht, zu ihrer Homosexualität zu stehen. Das freut uns. Unsere Bilder spiegeln wider, was wir um uns herum wahrnehmen und wie unsere Sicht der Dinge ist. Egal ob das unterschiedliche ethnische Gruppen sind, Homosexuelle, Heilige, Matrosen oder Comicfiguren. Jeder einzelne Mensch ist eine Ikone, etwas Außerordentliches, ein Star. Eine unserer letzten Arbeiten sind zwei Väter und ihr Sohn – das entspricht unserer Sicht auf das Thema "Ehe und Familie".

STANDARD: Ihr Stil wurde zur Mainstream-Stimme für schwule Kultur.

Pierre: Wir haben uns ja auch nicht versteckt. Und unsere Arbeiten sind nun einmal die Arbeiten eines schwulen Paares. Eine große Ausstellung, die wir 1986 hatten, hat sicher dazu beigetragen. Und dass unsere Arbeiten in Museen auf der ganzen Welt gezeigt werden.

Gilles: In den Siebzigerjahren mussten wir revoltieren. Nacktfotos und vor allem Nacktfotos von Männern waren eine Befreiung. Man hatte viele Möglichkeiten, sich selbst und seine Arbeit darzustellen, alles war sehr neu und sehr verboten. Heute gibt es über das Internet unendlich viele Möglichkeiten, sich all dieser Dinge zu bedienen. Auf der anderen Seite gibt es eine seltsame Art der Kontrolle innerhalb dieses "freien" Systems, das heute existiert.

STANDARD: 1992 haben Sie von sich selbst ein Hochzeitsbild fotografiert und gemalt. Gilles, Sie tragen ein weißes Hochzeitskleid und einen weißen Schleier, Pierre, Sie sind in einem dunklen Anzug zu sehen. Haben Sie sich damals über die Bourgeoisie lustig gemacht, oder war das als Kritik zu verstehen, die gleichgeschlechtliche Ehe existierte schließlich noch nicht?

Gilles: Wir sind romantisch (lacht). Aber geheiratet haben wir nie.

Der nackte Mann, die Königsdisziplin von Pierre et Gilles.
Foto: Pierre et Gilles

STANDARD: Was sagen Sie dazu, wenn Ihre Arbeit als Kitsch bezeichnet wird?

Gilles: Das finden wir nicht so toll. Das tut auch ein bisschen weh. Früher mehr als heute.

Pierre: In asiatischen Ländern gibt es keine Hierarchie des Geschmacks, keinen Unterschied zwischen gutem und schlechtem Geschmack.

Einer, der die Arbeit der beiden Künstler hochhält, ist Jeff Koons, der selbst oft als Kitschkönig bezeichnet wird: "Es fällt schwer, ohne den Einfluss von Pierre et Gilles an die zeitgenössische Kultur, von der Werbung über die Modefotografie bis hin zu Musikvideos und Film, zu denken." Die Kunstwerke von Pierre et Gilles wurden von New York bis Tokio ausgestellt, 2017 zeigten sie ihre Retrospektive Clair-obscur in Brüssel und Le Havre. Provozieren kann das Duo mit seinen Arbeiten noch immer. 2012 stellten die beiden eine Arbeit im Rahmen der Ausstellung "Nackte Männer" im Wiener Leopold-Museum aus. Die drei auf dem Bild "Vive la France" gezeigten französischen Fußballspieler waren nur mit Socken und Schuhen bekleidet. Da das Bild auch als Werbeplakat verwendet wurde, folgte ein Sturm der Entrüstung. Konsequenz: Die pikanten Stellen mussten mit Schleifen bedeckt werden. Pierre und Gilles? Nehmen es gelassen.

STANDARD: Wie lange arbeiten Sie eigentlich an einem Porträt?

Pierre: Ungefähr vier Wochen. Ein Porträt zu fotografieren geht schnell. Die Vor- und Nacharbeiten sind zeitaufwendig. Wir machen Skizzen, probieren verschiedene Licht-Setups aus, wählen das Dekor aus, bauen das Set, stellen die Farben zusammen, fertigen Papierblumen oder Sonstiges an. Gilles' Nachbearbeitung dauert dann noch einmal fast einen Monat. Wir stellen auch passende Rahmen zu den jeweiligen Bildern her. Von Anfang bis zum Ende machen wir alles selbst. Wir sind klassische Kunsthandwerker.

Gilles: Und jedes Porträt ist ein Einzelstück.

STANDARD: Was kann man heute zeigen? Was kann man nicht mehr zeigen?

Gilles: Wir haben unsere eigenen Regeln. Unsere Arbeit ist wie ein großes Album unseres Lebens. Es war nie unser Interesse zu schockieren. Unsere Kunst ist schön. (Cordula Reyer, RONDO exklusiv, 12.9.2018)

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