Die ehemalige Schauspielerin Charo Santos-Concio ist heute die erfolgreichste Managerin der Philippinen im Bereich Medien. Für Lav Diaz' "The Woman Who Left" hat sie ohne Zögern die Rolle der aus der Haft entlassenen Horacia übernommen.

Foto: Filmgarten

Wien – Gut Ding braucht manchmal wirklich Weile. Zum Beispiel die Filme von Lav Diaz. Dass nun mit The Woman Who Left zum ersten Mal eine Arbeit des philippinischen Filmemachers regulär in den heimischen Kinos gewürdigt wird, ist aber als kleine Sensation zu bewerten.

Denn abgesehen davon, dass Diaz' Filme ein erhöhtes Maß an Bereitschaft und Konzentration im Kinosaal verlangen, gelten sie auch aufgrund ihrer Länge gemeinhin als wenig publikumsfreundlich. The Woman Who Left dauert knapp vier Stunden und ist damit eine der kürzeren Arbeiten des Filippino. Der Vorgänger, A Lullaby to the Sorrowful Mystery (2016) über die philippinische Revolution gegen die spanische Kolonialmacht, dauert acht Stunden. Für Diaz selbst ist die Länge aber ohnehin kein Diskussionsthema: Seine Filme würden einfach so lange dauern wie nötig. Diesem trefflichen Argument ist unbedingt beizupflichten.

"The Woman Who Left" – Trailer
Skip

Internationale Festivalpreise erhalten Diaz' Arbeiten jedenfalls seit einiger Zeit unablässig: Für From What Is Before, die knapp sechsstündige Geschichte eines kleinen Dorfes unter der Diktatur Marcos' in den 1970er-Jahren, gab es einen Goldenen Leoparden in Locarno; für A Lullaby to the Sorrowful Mystery (2016) einen Silbernen Bären bei der Berlinale und noch im selben Jahr für The Woman Who Left den Goldenen Löwen in Venedig.

In The Woman Who Left, angesiedelt 1997 und angelehnt an Tolstois Kurzgeschichte Gott sieht die Wahrheit (1872), ergründet Diaz das Wesen der Dauer gleich zweifach: in der Geschichte einer Frau und in den Bildern selbst.

Diaz beginnt seine Erzählung in einem Gefängnis, das so lange nicht als solches erkennbar ist, bis die Frauen ihre Harken und Schaufeln zu Boden legen und bewaffnete Aufseher ins Bild rücken. Auch jede Einstellung braucht hier ihre bestimmte Zeit.

Gefühlte Ewigkeit

Die Dauer ihrer Gefängnisstrafe hat sich auch in den Körper von Horacia (Charo Santos-Concio) eingegraben – als persönliche Leidensgeschichte und als die der Ungerechtigkeit: Dreißig Jahre hat die Dorfschullehrerin für den Mord an ihrem Mann abgesessen, den sie nicht beging. Zu Beginn erhält sie die Nachricht, dass die wahre Täterin gefunden worden und sie frei sei. Der Zusammenbruch folgt nicht sofort. Denn auch der Schock wirkt länger nach, und es dauert, um dieser unfassbaren Situation gewahr zu werden.

In Horacia spiegelt sich die Erkenntnis: Die Welt, hinter der sich die Gefängnistore schlossen, ist nicht mehr dieselbe. Der Sohn ist in Manila verschollen, zu ihrer Tochter hatte sie keinen Kontakt. Ein erstes Telefonat, geführt von einem öffentlichen Telefon auf einem kleinen Dorfplatz, dauert nur wenige Minuten und doch eine gefühlte Ewigkeit.

Sie bereue es, dass sie die Mutter nie besucht habe, meint die Tochter später. Aber wer besucht die Mörderin des eigenen Vaters? Als später ein Toter gefunden wird, der Horacias Sohn sein könnte, kann ihn die Mutter nicht identifizieren. Wer kennt das eigene Kind, das man nicht hat großwerden sehen?

Blendend scharf

Langsam entrollt Diaz eine Rachegeschichte: Horacia kennt den Mann, der für den Auftragsmord verantwortlich ist – ihr ehemaliger Freund, der den Verlust ihrer Liebe nicht verkraften konnte. Manche Verletzungen heilen eben nie, weil die Zeit die Wunden in Wahrheit natürlich nicht heilt. Doch es ist kein geradliniger Weg, den Horacia geht, sondern vielmehr ein verschlungener Pfad, der sie zu sich selbst führt. Die Menschen, denen sie hier in der Provinz begegnet, führen sie von ihrem Vorhaben eher weg.

Wie fast alle seine Arbeiten hat Diaz The Woman Who Left mit Digitalkamera in blendend scharfem Schwarz-Weiß gedreht, in tableauartigen Bildern und von formal bestechender Klarheit. Auch mit seiner Ästhetik zeigt sich Diaz von jedem ökonomisch motivierten Sachzwang befreit.

Lav Diaz ist der bedeutendste Filmchronist seiner Heimat, weil er Geschichte nicht retrospektiv betrachtet, sondern das Nachbeben des Kolonialismus und der Diktatur in der Gegenwart wie ein Seismograf aufzeichnet – und das der nach wie vor herrschenden Gewalt. Der mit ihm befreundete, 2009 ermordete philippinische Filmkritiker Alexis A. Tioseco beschrieb das Kino von Diaz so: "Die Geschichte der Philippinen hat sich in diesen Filmen eingeschrieben in die müden Gesichter. Und in die Momente der Stille." Jeder Film von Lav Diaz ist wie ein langsamer Atemzug. (Michael Pekler, 30.3.2018)