Die neue Familie von Boris ist schon gegründet (Alexej Rosin mit Marina Wassiljewa), allein, sein zwölfjähriger Sohn Aljosha spielt in den Lebensplänen seiner Eltern kaum eine Rolle.

Foto: polyfilm

Wien – Unter den russischen Gegenwartsregisseuren ist Andrej Swjaginzew derjenige, der den gesellschaftlichen Verhärtungen unter der Putin-Ära am nächsten rückt. Dafür muss er den gerade erst wieder im Amt bestätigten Langzeitfürsten nicht namentlich erwähnen. In seinem weithin gefeierten Film Leviathan kämpft ein Mann ohne Erfolg gegen ein Machtkonglomerat aus Politik und Kirche. Es will ihm das Grundstück wegnehmen, auf dem er schon immer gelebt hat. Der Widerspenstige ist in dieser modernen Michael-Kohlhaas-Variation genau um jenes Stück zu wenig couragiert, um zum Freiheitskämpfer zu werden. Der Fatalismus, sagte Swjaginzew damals, sitze in Russland einfach zu tief.

In Loveless, der letzten Mai in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde, ist die Perspektive nun auf ein Ehepaar verschoben, das nur noch das eigene, individuelle Glück vor Augen hat, allerdings nicht mehr gemeinsam. Hoch oben in einem modernen Wohnkomplex tobt der Rosenkrieg, die Trennung ist bereits beschlossene Sache. Doch es gibt einen Kollateralschaden in der Beziehung von Boris (Alexej Rosin) und Zhenya (Marjana Spiwak) – ihren zwölfjährigen Sohn Aljosha (Matwej Nowikow), den keiner der beiden in seinem nächsten Lebensabschnitt an einer entscheidenden Stelle führt.

Zurückgelassen: Zhenya (Marjana Spiwak) und ihr zwölfjähriger Sohn Aljosha (Matwej Nowikow).
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In einer Szene, die sein ganzes inszenatorisches Genie enthält, macht Swjaginzew deutlich, wie wenig Rücksicht das Paar auf diesen Teil seiner gemeinsamen Vergangenheit nimmt. Es gibt keinen Schnitt, der auf die andere Seite, zur Perspektive des Sohnes, führt. Vielmehr wird dessen Verzweiflung mit einem markerschütternden Bild einfach mitten ins Zentrum des Sturms verlegt. Die Mutter stürmt im Streit aus einem Raum, dann erst erkennt der Zuschauer am leisen Schluchzen des Buben im Dunkeln, dass dieser ebendort alles mitbekommen hat.

Wenn Aljosha aus diesem Film verschwindet, ist dies somit eigentlich nur ein Schritt tiefer in dessen Unsichtbarkeit. Swjaginzew führt uns eine Nacht lang zu den neuen Partnern von Boris und Zhenya. Der Vater wiederholt sein Muster und erwartet mit einer jungen Frau (Marina Wassiljewa) ein weiteres Kind; die Mutter wirkt an der Seite eines einsilbigen Neureichen wie ordinärer Aufputz. Aljosha aber kehrt aus der Schule nicht mehr heim. Die Polizei erweist sich als unkooperativ, deswegen wird ein von Freiwilligen geformter Suchtrupp engagiert, der nach dem Vermissten sucht.

Qualität der Verachtung

In einem therapeutisch ausgerichteten Filmdrama würde die Lücke, die der verschwundene Sohn hinterlässt, wohl eine allmähliche Annäherung der Eheleute veranlassen. Nicht so bei Swjaginzew, der im Lauf der Ereignisse erst anschaulich macht, wie tief deren Überzeugung sitzt, ihr bisheriges Leben verschwendet zu haben. Die wenigen gemeinsam ausgeführten Schritte von Boris und Zhenya geraten zum Ventil wechselseitiger Schuldzuweisungen, bei denen ein ums andere Mal die Qualität der Gefühlskälte, ja der Verachtung verblüfft.

Den Mangel an Liebe, den der Film schon im Titel führt, macht Swjaginzew allerdings nicht unbedingt in einem beziehungspsychologischen Sinne fest. Mehr als eines seiner Vorbilder, Ingmar Bergmans Szenen einer Ehe, drängt Loveless in Richtung einer Gesellschaftsstudie. Der Film will zeigen, wie die Suche nach Glück einem Druck nach sozialer Anpassung unterliegt, der streng individualistisch ausgerichtet ist. Boris fürchtet um seinen Job bei einem Unternehmen, das viel auf die christliche Tugendhaftigkeit seiner Mitarbeiter hält, während Zhenya dem Reiz des Hedonismus einer von allen Zwängen befreiten Oberklasse erliegt.

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Swjaginzews Beweisführung ist nicht ganz frei von plakativen Momenten, allerdings nutzt er selbst kleine Nischen, um den Mangel an Eigenwahrnehmung seines mittelständischen Paares präzise kenntlich zu machen. Umgekehrt bildet der Suchtrupp aus hilfsbereiten Bürgern so etwas wie eine demokratische Gegenposition in Loveless: Nicht nur die Hartnäckigkeit im Engagement, auch die unbürokratische Organisiertheit hat Vorbildcharakter.

In den von langsamen Schwenks bewegten Breitwandbildern von Kameramann Michail Krichman, denen eine eigentümliche Präsenz anhaftet, wirken die Suchenden wie eine fremde Macht, die von dem geleitet wird, was sonst allenthalben fehlt: dem Sinn für soziales Miteinander. (Dominik Kamalzadeh, 3.4.2018)