Medienwissenschafter Josef Seethaler

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"Überlegen, wie man die jeweils eigenen Stärken mit verschiedenen Formen der Online-Kommunikation im Interesse der Stärkung des Vertrauens in demokratische Werte und Verfahren verknüpfen und ausbauen könnte", rät Josef Seethaler den Medien. Hier ein Auszug aus dem Forum zu seinem letzten Eintrag im Etat-Blog "Ein Fall für die Wissenschaft".

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Alle reden vom Medienwandel. Man kann seine Auswirkungen auf den Journalismus sehr unterschiedlich interpretieren. Die einen meinen, dass aus dem klassischen Zwei-Stufen-Fluss der Kommunikation mit der Journalistin oder dem Journalisten als Gatekeeper ein One-Step-Flow geworden ist, der am Journalismus vorbeigeht. Die andere Interpretation sieht die Funktion des professionellen Journalismus dringender denn je gegeben. Er wird zwar nicht mehr so sehr am Gate entscheiden können, welche Nachrichten hindurchdürfen und welche nicht, aber er wird die Fülle der online verfügbaren Informationen sortieren, kanalisieren, strukturieren helfen. Vom "Gatewatching" ist hier die Rede.

Es geht um den Erhalt der Demokratie

Nun, Ersteres lässt sich nicht verhindern: Öffentliche Kommunikation wird teilweise auch ohne Journalismus stattfinden. Und an Zweiterem führt auch kein Weg vorbei: Journalismus wird seine professionelle Funktion überdenken müssen. Das technologische Rad der Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Aus meiner Sicht geht es beim Medienwandel um etwas ganz anderes.

Medien erfüllen in der Demokratie, so hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrfach festgestellt, eine öffentliche Aufgabe. Bei dieser geht es heutzutage um nichts weniger als um den Erhalt der Demokratie. Warum?

Umwelt, Frauen, Pazifismus

Blenden wir zurück in die 1970er-Jahre. Damals schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Für die meisten Menschen lief das Leben in festen, vorgezeichneten Bahnen ab. Sicherheit, Stabilität, wirtschaftliche Versorgung standen ganz oben. Die Politikwissenschaft spricht von materialistischen Wertvorstellungen. Dennoch war etwas in Bewegung gekommen. 1972 wurde ein Umweltministerium gegründet, ab 1975 konnte der Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert werden, und 1979 fanden erstmals die Interessen von Frauen Eingang in die Regierungspolitik.

Gleichberechtigung, freie Meinungsäußerung, Umweltbewusstsein wurden für mehr und mehr Menschen wichtige Orientierungspunkte in ihrem Leben. Die Forschung nennt das "self-expression values", also "Selbstbestimmungswerte" (so die etwas unglückliche deutschsprachige Übersetzung). Dabei geht es um die Positionierung des Ich in der sozialen und natürlichen Umwelt. Lange Zeit unhinterfragt geltende Weltanschauungen und Autoritäten wurden und werden in Zweifel gezogen – und damit auch die sie repräsentierenden gesellschaftlichen Institutionen, im Staat, in der Kirche, wo auch immer.

Vertrauensverlust

Natürlich lief das nicht so romantisch ab. Hinter diesem Wertewandel stehen beinharte ökonomische Veränderungen: das Ende des Organisationskapitalismus und eine Partikularisierung der Arbeit in den westlichen Industriestaaten, die keine Industriestaaten mehr sind und vergessen zu haben scheinen, Bildungsziele und -strukturen neu zu ordnen. Auch das förderte notgedrungen den Verlust an Sicherheit und die Individualisierung der Gesellschaft – und den Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen, die darauf keine nachhaltigen Antworten fanden und finden.

Dieser Vertrauensverlust trifft natürlich auch die Medien. Aber in weit geringerem Ausmaß als andere Institutionen und vor allem dann, wenn die Menschen die Medien als unter politischem Einfluss stehend wahrnehmen – dann färbt das niedrige Vertrauen in die Politik auf die Medien ab. Auch der derzeitige politische Angriff auf den ORF wird letztlich seine hohen Vertrauenswerte als Garant für genaue und verlässliche Informationen untergraben. [Reuters Institute – Digital News Report 2017]

Gefährlich, notwendig, schützenswert

Wie gefährlich, wie notwendig und wie schützenswert ein freier Journalismus ist, zeigt ein Blick in unser kaum 70 Kilometer von Wien entferntes Nachbarland, die Slowakei. Doch Demokratie ist nicht nur vonseiten der Mafia bedroht.

Das Verständnis von Demokratie selbst ist in Bewegung und daher angreifbar und verwundbar. Für die einen, die "Materialisten", bedeutet sie vor allem das Delegieren von Verantwortung an durch Wahlen legitimierte Vertreter; die anderen, die "Selbstverwirklicher", verstehen sie als aktive Beteiligung an den Prozessen kollektiver Willensbildung und Entscheidungsfindung. Sinkt das Vertrauen in die Demokratie, neigen die einen dazu, sich eine "starke Hand" zu wünschen, und die anderen, sich in ein vermeintlich unpolitisches Privatleben zurückzuziehen.

Dem Journalismus kommt in beiden Demokratieverständnissen eine unterschiedliche Rolle zu.

Rationale Entscheidung

In der erstgenannten repräsentativen Form geht es – vereinfacht gesagt – darum, in der Wahlzelle eine rationale Entscheidung zu treffen. Das setzt voraus, über die relevanten Themen, Positionen und Argumente informiert zu sein. Darin liegen hohe und wichtige Anforderungen an die Medien – sie sind ungebrochen gültig, aber sie sind es nicht allein. Denn der Pferdefuß der repräsentativen Demokratie ist, dass die Relevanz der Themen in der Regel von den politischen Akteuren vorgegeben wird – und nicht von jenen, denen die Probleme unter den Nägeln brennen.

Menschen befähigen und ermutigen

Die zweitgenannte Form der partizipatorischen Demokratie setzt genau hier an: bei der Definition und Lösung von Problemen. Und meint: Menschen zu befähigen und zu ermutigen, selbst das Wort zu ergreifen und sich gesellschaftlich zu engagieren. Ihnen ein Forum zu geben, ihre Anliegen und Argumente mit Respekt für andere Positionen zu artikulieren, zu vernetzen und in öffentliche Prozesse der Verständigung und Entscheidungsfindung einzubringen.

Was wäre das für eine Aufgabe für den Journalismus! Nicht die durch die neuen Kommunikationstechnologien geschaffenen Möglichkeiten als unwillkommene Konkurrenz zu fürchten (nein, das ist keine Ausrede für die Politik, sondern ein Plädoyer für eine supranationale Politik – anders wird man die globalen Internetgiganten nicht zähmen können), sondern sich zu überlegen, wie man die jeweils eigenen Stärken mit verschiedenen Formen der Online-Kommunikation im Interesse der Stärkung des Vertrauens in demokratische Werte und Verfahren verknüpfen und ausbauen könnte.

Gemeinsam mit einem Publikum, das nicht Empfänger, sondern Partner ist.

Wenige Frauen, wenig Gefühl

PS: Damit ich mich öffentlich engagiere, muss ich mich privat, als Mensch, angesprochen fühlen, und zwar: als ganzer Mensch angesprochen fühlen – als Mann und als Frau, mit meinen Überlegungen und mit meinen Gefühlen. Das kann nicht funktionieren, wenn Frauen – wie eine Studie der Rundfunk- und Telekom-Regulierungs-GmbH ("Qualität des tagesaktuellen Informationsangebots in den österreichischen Medien", PDF-Link) gezeigt hat – in durchschnittlich nur 20 Prozent der Nachrichtenbeiträge in den österreichischen Medien eine zentrale Rolle spielen. Und das kann nicht funktionieren, wenn Gefühle aus der öffentlichen Diskussion verbannt sind (und, weil sie das sind, durch die Hintertür hereinkommen ...): Das, was mir persönlich ein Anliegen ist, wird mich immer emotional berühren, und für etwas einstehen und sich einsetzen wird immer leidenschaftlich sein.

Das heißt: Öffentliche und private Sphäre überlappen sich. In einer sich verändernden, diversen Gesellschaft kann Journalismus dazu beitragen, damit verantwortungsvoll im Sinne eines demokratischen Austausches umzugehen.

PPS: Ich weiß schon, dass das Gesagte an der Realität vorbeigeht: Weder die österreichische Politik noch die österreichische Medienförderung gehen mit diesem Verständnis von Journalismus konform. (Josef Seethaler, 3.4.2018)