Foto: LIGO/A. Simonnet

Wie selbst die hellsten Köpfe der Wissenschaft völlig danebenliegen können, zeigt die Entdeckungsgeschichte der Gravitationswellen auf eindrucksvolle Weise. Im Februar 1916 hatte der Physiker Albert Einstein endlich wieder den Kopf frei für neue Gedanken. Nach jahrelangem Ringen um die korrekte Form der Gleichungen, welche die Struktur von Raum und Zeit beschreiben, hatte das Jahrhundertgenie erst kurz zuvor seine Allgemeine Relativitätstheorie vollendet.

Ob die Raumzeit wellenförmige Phänomene, genannt Gravitationswellen, hervorbringt, in dieser Frage änderte Einstein seine Meinung gleich mehrmals – aber mehr dazu später. Wie es die Geschichte will, sollte, fast genau hundert Jahre nachdem Einstein erstmals über Gravitationswellen spekulierte, deren erster direkter Nachweis gelingen. Nach 30-jähriger Suche gaben Physiker des US-amerikanischen Gravitationswellenobservatoriums Ligo am 12. Februar 2016 bekannt, wenige Monate zuvor diese wellenförmigen Störungen der Raumzeit gemessen zu haben. Rasch war von einer neuen Ära der Astronomie die Rede. Die Situation ist vergleichbar mit der Entwicklung des Teleskops: Plötzlich ist sichtbar, was sich zuvor in den dunklen Weiten des Weltalls verborgen hielt.

Der erste direkte Nachweis von Gravitationswellen ist Ende 2015 gelungen: Damals wurden Störungen der Raumzeit gemessen, die bei der Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher entstanden sind.
LIGO Lab Caltech : MIT

Neue Sinnesorgane für den Kosmos

Doch dabei geht es nicht nur ums Sehen. Gravitationswellen sind eine völlig andere Art von Wellen als elektromagnetische Wellen, zu denen auch Licht gehört. Physiker scheuen daher nicht davor zurück, sie als "neues Sinnesorgan" für den Kosmos zu bezeichnen. Beim ersten direkten Nachweis sind Gravitationswellen gemessen worden, die bei der Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher vor 1,3 Milliarden Jahren entstanden sind. Diese Objekte, die erst seit den 1970er-Jahren zum selbstverständlichen Inventar der Astrophysik gehören, erzeugen in ihrer Umgebung eine so starke Gravitation, dass weder Materie noch Licht entkommen können. Elektromagnetische Wellen sind daher kein geeignetes Medium, um Schwarze Löcher zu erforschen – sie werden einfach verschluckt.

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Am US-Gravitationswellenobservatorium Ligo in Hanfort, Washington, und Livingston, Louisiana, (hier im Bild zu sehen) konnten 2015 die ersten Gravitationswellen gemessen werden.
Foto: REUTERS/Caltech/MIT/LIGO Laboratory

Die enorme Bedeutung von Gravitationswellen für die Wissenschaft wird in diesem Fall deutlich: Sie machen es möglich, Informationen über astronomische Objekte einzufangen, die mit Licht nicht erkundet werden können – oder gar ganz neue, uns noch völlig unbekannte Objekte zu entdecken. Die Ära der Gravitationswellenastronomie ist mit großer Aufmerksamkeit und hohen Auszeichnungen eingeleitet worden, die Ligo-Gründerväter Rainer Weiss, Kip Thorne und Barry Barish wurden 2017 mit dem Physiknobelpreis geehrt. Weit weniger Beachtung in der breiten Öffentlichkeit fand indes ein weiteres Sinnesorgan für den Kosmos, das immer mehr an Bedeutung gewinnt: Neutrinos.

Diese elektrisch neutral geladenen Elementarteilchen mit geringer Masse interagieren zwar kaum mit anderen Teilchen. Astronomen haben aber dennoch Möglichkeiten gefunden, sie zu detektieren und daraus Informationen über astronomische Ereignisse wie Supernova zu gewinnen. Im Gegensatz zu Beobachtungen per Licht erlaubt es die Messung von Neutrinos, quasi ins Herz solcher Phänomene vorzudringen. In Kombination mit Gravitationswellen und elektromagnetischen Wellen, die bei solchen Ereignissen ebenfalls ausgesandt werden, ergibt sich eine neue, vielschichtige Form der Beobachtung: die Multimessenger-Astronomie.

Der Wiener Physiker Peter Aichelburg erklärt im STANDARD-Video die Bedeutung von Gravitationswellen.
derstandard.at/von usslar

Das Zwitschern der Gravitation

Elektromagnetische Wellen ermöglichen den Blick ins Universum – das Sehen war unser erster Sinneseindruck vom Kosmos. Für die Gravitationswellen wird hingegen gerne die Metapher des Hörens bemüht, lagen die erstmals detektierten Wellen doch zufällig genau in dem Frequenzbereich, in dem auch für den Menschen wahrnehmbare akustische Wellen liegen. In ein akustisches Signal übersetzt, klingen die Gravitationswellen wie ein Zwitschern. "Diese Analogie macht auf mehreren Ebenen Sinn, als wir im ersten Moment annehmen", sagt Imre Bartos, Physiker an der University of Florida. Da er sowohl am Gravitationswellenobservatorium Ligo als auch an einem Neutrino-Experiment beteiligt ist, vereinigt Bartos den Multimessenger-Ansatz schon in seiner eigenen Arbeit.

Auch die Art und Weise, wie Gravitationswellen gemessen werden, weist Parallelen zur Funktionsweise des menschlichen Ohrs auf: Wir nehmen Geräusche über Schallwellen wahr. Dabei handelt es sich um Druck- und Dichteschwankungen in Luft oder Wasser, die vom Trommelfell aufgefangen werden. Ganz ähnlich verhält es sich bei den Gravitationswellen: Auch hier werden keine Teilchen aufgefangen, sondern die Schwingungen des Mediums registriert, durch das sich die Wellen bewegen.

Verzerrungen der Struktur von Raum und Zeit

Im Falle der Gravitationswellen ist das die Struktur von Raum und Zeit selbst, die Raumzeit. Beim Gravitationswellen-Observatorium Ligo wird das mithilfe zweier gleich langer Röhren bewerkstelligt, in die jeweils ein Teilstrahl eines Lasers geleitet wird. Am Ende der Röhren werden die Lichtwellen von einem Spiegel reflektiert und zum Ausgangspunkt zurückgeworfen. Im Normalfall sollten sich die Strahlen aufheben, und es würde kein Signal gemessen werden. Verzerrt jedoch eine Gravitationswelle die Raumzeit, variiert dadurch die Länge der beiden Röhren minimal – und die Physiker messen ein Signal.

Laserinterferometer mit kilometerlange Armen dient in Gravitationswellenobservatorien dazu, minimale Krümmungen der Raumzeit zu messen.
Caltech Ligo

Da es von diesen Detektoren zwei Stück gibt – einen in Livingston (Louisiana) und einen in Hanford (Washington) -, ist es möglich, nicht nur genauere Signale aufzunehmen, sondern auch deren Herkunftsrichtung zu lokalisieren – so wie es bei Schallwellen durch zwei Ohren möglich ist. "Diese Analogie funktioniert so gut, dass es beinahe schon unheimlich ist", sagt Bartos.

Kosmische Cocktailparty

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum die Analogie von Hören und Gravitationswellen aufschlussreich ist: der sogenannte Cocktailparty-Effekt. Das menschliche Gehör besitzt die Fähigkeit, aus einer Vielzahl unterschiedlicher Schallwellen zu selektieren – und beispielsweise trotz Hintergrundlärm ein Gespräch mitzuhören, das einige Tische weiter bei einer Party im Gange ist.

Auch bei der Detektion von Gravitationswellen gehen Physiker nach dem Cocktailparty-Prinzip vor: Aus der Vielzahl an unterschiedlichen Signalen werden jeweils die Gravitationswellen eines bestimmten Ereignisses herausgefiltert. "Dieses Prinzip kommt uns sehr natürlich vor, tatsächlich stecken dahinter unglaublich komplexe Berechnungen", sagt Bartos.

Moleküle schmecken

Für das dritte Medium der Multimessenger-Astronomie gibt es ebenfalls eine Analogie zur menschlichen Sensorik: Die Neutrino-Beobachtung kann mit Geschmackseindrücken verglichen werden. Bei elektromagnetischen Wellen und Gravitationswellen geht es darum, Strahlung zu detektieren. Neutrinos hingegen lassen sich nur durch das Auffangen der Teilchen selbst registrieren – ähnlich wie Geschmackseindrücke nur durch die Berührung mit Molekülen entstehen.

Um Neutrinos zu messen, gibt es verschiedene experimentelle Möglichkeiten. Ein Forschungsprojekt, an dem auch Bartos beteiligt ist, ist das IceCube South Pole Neutrino Observatory. Dort macht man sich den Effekt zunutze, dass Neutrinos am Südpol mit Eis-Atomen interagieren. Dadurch entstehen geladene Teilchen, die wiederum Licht erzeugen – und dieses Licht wird schließlich registriert, es handelt sich also um eine indirekte Messmethode.

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Am IceCube South Pole Neutrino Observatory werden Neutrinos gemessen, die mit den Eis-Atomen interagieren.
Foto: REUTERS/NSF/IceCube/Martin Wolf

"Auf Dinge wetten, die wir nicht verstehen"

Mit Weltraumteleskopen wie Hubble, Gravitationswellen-Observatorien wie Ligo und dessen europäischen Conterparts Virgo und Neutrino-Experimenten wie IceCube stünden eigentlich Instrumentarien bereit, um den Kosmos mit allen Sinnen zu erfassen. Woran liegt es, dass der multimediale Durchbruch der astronomischen Forschung bisher noch nicht gelungen ist?

Geht es nach Physikern wie Imre Bartos, die vom Potenzial der Gravitationswellenastronomie überzeugt sind, liegt das an fehlenden Gelegenheiten. Einen wichtigen Erfolg der Multimessenger-Astronomie brachte die Kollision zweier Neutronensterne, die am 17. August 2017 beobachtet werden konnte – mittels Gravitationswellen und mittels elektromagnetischer Wellen. Neutrinos konnten damals aber nicht aufgespürt werden. Die Kollision ereignete sich in der Galaxie NGC4993, die etwa 130 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt ist. Die Distanz war damit zu groß, als dass dabei ausgesendete Neutrinos ihren Weg bis zur Erde hätten schaffen können. So müssen die Forscher auf andere Ereignisse hoffen, die näher an der Erde stattfinden, um gleichzeitig hören, schmecken und sehen zu können.

Bartos ist zuversichtlich, dass dies gelingen wird: "Wir erreichen jetzt eine Ära, wo es zum Standard wird, dass wir großartige Entdeckungen machen. Die Aufgabe besteht nun darin, so viel wie möglich dabei zu lernen und Ereignisse zu finden, die sehr selten sind und unser Wissen erweitern." Eine der Herausforderung dabei ist die Entscheidung, für welche Beobachtungen Teleskope wann eingesetzt werden sollen – sie können immer nur einen winzigen Ausschnitt in einer bestimmten Richtung erspähen. "Das zu entscheiden wird sehr schwierig werden", sagt Bartos, "wir müssen auf Dinge wetten, die wir noch nicht umfassend verstehen."

Drei Supernova-Ereignisse pro Jahrhundert

Neben der Kollision zweier Schwarzer Löcher oder Neutronensterne wäre die Verschmelzung eines Schwarzen Lochs mit einem Neutronenstern oder eine Supernova ein vielversprechender Kandidat für die Multimessenger-Beobachtung. Bei Letzterem handelt es sich um die gewaltige Explosion eines Sterns am Ende seiner Lebenszeit. Die Forscher sind noch uneins, welches Gravitationswellen-Signal bei so einem Ereignis entsteht. Das zu wissen ist aber die Voraussetzung, um Gravitationswellen einer Supernova aufspüren zu können.

Pro Jahrhundert sind Bartos zufolge in etwa drei solche Explosionen zu erwarten, die nahe genug an der Erde stattfinden, um Neutrinos zu messen. Die letzte Supernova, bei der das gelungen ist, ereignete sich 1987: Damals wurden nicht nur elektromagnetische Wellen eingefangen, sondern auch genau 25 Neutrinos – womit gewissermaßen die erste Multimessenger-Beobachtung überhaupt gelang. Durch die enorme Verbesserung beim Instrumentarium könnten bei einem derartigen Ereignis heute wohl Millionen von Neutrinos gemessen werden – und womöglich auch Gravitationswellen.

Explosiver Sternenkuss: Darstellung der Verschmelzung von zwei Neutronensternen, die enorme Mengen an Energie freisetzt.
Foto: University of Warwick/Mark Garlick

Kosmische Strahlung

Eine weitere offene Frage ist, inwiefern Schwarze Löcher durch einen Multimessenger-Ansatz erforscht werden können. Da sie Licht und Materie verschlingen, sind sie an sich nur durch Gravitationswellen zugänglich. Es könnte aber spezielle Konstellationen geben, wo doch noch weitere Signale entstehen. Beispielsweise, wenn zwei Schwarze Löcher nicht im leeren Raum verschmelzen, sondern von Gas umgeben sind. Bei der Verschmelzung könnte das Gas von den Schwarzen Löchern eingesaugt werden, wobei womöglich Strahlung ausgesendet würde. Noch ist ungewiss, ob so ein Szenario tatsächlich eintreten kann. Diese Spekulationen durchzudenken und zu berechnen ist aber eine wichtige Voraussetzung dafür, um ein solches Phänomen – im Falle seiner Existenz – auch tatsächlich entdecken zu können.

Wenn man es genau nimmt, steht neben elektromagnetischen Wellen, Gravitationswellen und Neutrinos sogar noch ein vierter Kanal zur Verfügung: kosmische Strahlung. Dabei handelt es sich um eine hochenergetische Teilchenstrahlung aus Protonen, Elektronen oder geladenen Atomen, die von der Sonne oder fernen Galaxien kommen kann. Auch sie gilt es, in den Multimessenger-Ansatz zu integrieren.

"In der Geschichte zeigt sich, dass wir mit jedem neuen Kanal, den wir in der Astronomie entwickelt haben, neue Objekte entdecken konnten, die völlig überraschend waren", sagt Bartos. "Das sollten wir auch jetzt im Hinterkopf behalten: Gravitationswellen könnten uns Phänomene eröffnen, die wir noch gar nicht kennen."

Werden bei der Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher nur Gravitationswellen ausgesendet oder auch eine andere Strahlung? Dieser Frage wollen sich Physiker mit Rechnungen annähern.

Einsteins Irrtum

Im Lichte der Erfolge, die die Multimessenger-Astronomie in Aussicht stellt, bleibt noch die Frage offen, warum Einstein eigentlich an der Existenz von Gravitationswellen gezweifelt hat. Dazu bedarf es einer Rückblende zum Februar 1916: Einstein stellte sich damals die Frage, ob es in der vierdimensionalen Raumzeit, die er soeben in der Physik eingeführt hatte, wellenförmige Phänomene geben kann. Eine Analogie dafür waren die Wellen im Elektromagnetismus. Diese hatte den französischen Mathematiker und Philosophen Henri Poincaré bereits 1905 dazu veranlasst, "ondes gravifiques" – auf Deutsch "Gravitationswellen" – vorzuschlagen.

Die Feldgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie gaben Einstein das Werkzeug in die Hand, die Existenz von Gravitationswellen zu berechnen. Theoretisch jedenfalls, denn in der Praxis erweist sich die Lösung der Feldgleichung als eine enorme Rechenaufgabe. Zum ersten Mal erwähnte Einstein Gravitationswellen in einem Brief an seinen Kollegen Karl Schwarzschild vom 19. Februar 1916. Dabei war seine Schlussfolgerung eindeutig: Gravitationswellen existieren nicht. Wenig später wurde Einstein durch den Astronomen Willem de Sitter auf neue Berechnungsmethoden aufmerksam, die ihn seine Skepsis gegenüber Gravitationswellen überwinden ließen. So sagte er im Juni 1916 in einer Arbeit die Existenz von Gravitationswellen voraus. Darin machte er aber einen gravierenden Rechenfehler, den er 1918 selbst korrigierte – die Gravitationswellen waren demnach viel schwächer als zuvor gedacht.

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In keiner Frage hat sich Albert Einstein selbst so oft korrigiert, wie in jener, ob es Gravitationswellen gibt, oder nicht.
Foto: AP

Und sie existieren doch

1936 legte Einstein gemeinsam mit seinem Assistenten Nathan Rosen erneut eine Publikation zum Thema vor, die er beim Fachblatt "Physical Review" einreichte. Diesmal lautete die Conclusio: Gravitationswellen existieren nicht. Da der anonyme Gutachter – wir wissen heute, dass es Howard P. Robertson war – einen entscheidenden Fehler in Einsteins Ableitung entdeckte, lehnte die Fachzeitschrift das Manuskript ab. Einstein, der erst kürzlich in die USA emigriert und mit der Kultur der anonymen Gutachten noch wenig vertraut war, zeigte sich entsetzt über diese Abfuhr. Er schrieb einen wütenden Brief an den Herausgeber und reichte nie wieder eine Arbeit bei "Physical Review" ein.

Sein Paper schickte er an ein anderes Journal. Zur selben Zeit kam ein Assistent Einsteins zufällig mit Robertson ins Gespräch, der ihn diskret auf den Fehler hinwies. Als Einstein schließlich davon erfuhr, zog er seine Arbeit wieder zurück, nur, um sie danach erneut abzusenden – diesmal mit vollkommen anderen Resultaten. Bis zum Rest seines Lebens blieb Einstein aber überzeugt, dass der Effekt der Gravitationswellen zu gering ist, um ihn je experimentell nachweisen zu können. Womit er sich in dieser Sache abermals geirrt hat, wie wir seit 2016 wissen. (Tanja Traxler, 1.1.2019)