"Sie sind das letzte 'alldeutsche' Projekt", spottet Volker Weiß über die Identitären – die hier in Berlin demonstrieren.

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Weiß: "Es gibt eine Parallele zwischen Österreich und der Ex-DDR. Beide haben den Faschismus externalisiert."

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STANDARD: "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich", meinte Mark Twain. Erleben wir mit dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien in Europa und deren Regierungsübernahme in Ungarn, Polen und zuletzt Österreich einen Reim auf die Zwischenkriegszeit?

Weiß: Zumindest wollen es manche so sehen und nehmen den einzelnen Vers für das ganze Epos. Autoritäten sind wieder gefragt, und die Sehnsucht nach "Entscheidungen" ist groß. Die politische Rechte reaktiviert den Jargon der 1920er- und 1930er-Jahre. Doch trägt der Vergleich nur bedingt. Die Ursachen unserer Krisen liegen in der Gegenwart, sie werden nur in historischen Kostümen vorgeführt. In Ungarn ist der Friedensvertrag von Trianon aus dem Jahr 1920 Thema. In Deutschland rechne ich damit, dass man den Versailler Vertrag spätestens 2019 – zum 100. Jahrestag der Unterzeichnung – wieder diskutieren wird. Er passt zu gut zum ewigen nationalen Opfermythos. Es gibt da übrigens eine Parallele zwischen Österreich und der Ex-DDR, die in meinen Augen eine Erklärung für deren besondere Rechtsentwicklung ist: Beide haben den Faschismus externalisiert. Entweder sah man sich wie in Österreich als Opfer der Deutschen oder wie in der DDR mit Georgi Dimitroff (bulgarischer Kommunistenführer, Anm.) als Opfer des "Finanzkapitals".

STANDARD: Die Sehnsucht nach dem starken Staat mit einem starken Mann an der Spitze nährt sich vor allem aus Unsicherheit und Existenzangst in Krisenzeiten. In der Zwischenkriegszeit waren es die Folgen der Weltwirtschaftskrise – Arbeitslosigkeit, Hunger, Massenelend –, die autoritäre Regime und Diktatoren an die Macht brachten. Haben die Flüchtlingskrise und der Unmut über Bevormundung durch Brüssel heute in der EU ein ähnlich explosives Potenzial?

Weiß: Die gesellschaftlichen Ausgangslagen sind völlig verschieden, aber die Rechte hat ein vitales Interesse an einer ähnlichen Krisenstimmung. Anders als etwa der Versailler Vertrag oder die damalige Hyperinflation sind die heutigen Krisen keinem Weltkrieg entsprungen. Das Europa des Maastricht-Vertrags besteht seit 1992, also länger als die gesamte Zeitspanne zwischen den Weltkriegen. Die Flüchtlingskrise hat sich allmählich aufgestaut. Daher halte ich auch nichts davon, Angela Merkels Entscheidung zur vorläufigen Aufnahme weiterer Gestrandeter als ein Fanal zu sehen. Aber es war ein Moment, der sich hervorragend ausschlachten lässt.

STANDARD: Die deutsche Bundestagswahl 2017 brachte einen deutlichen Zuwachs für die rechtspopulistische, nationalistische und EU-kritische Alternative für Deutschland (AfD). Hat die AfD historische Vorbilder, oder orientiert sie sich eher an Beispielen in anderen EU-Ländern, etwa dem Front National in Frankreich, der Partei von Geert Wilders in den Niederlanden oder der FPÖ?

Weiß: Das ist bei den führenden AfD-Politikern unterschiedlich. Aber das größte Vorbild für alle dürfte stets die FPÖ sein.

STANDARD: Österreich hat seit kurzem eine konservativ-rechtspopulistische Regierung mit einem jungen Bundeskanzler, der verschiedentlich bereits als Volkstribun gesehen wird. Kann das, wiederum mit Blick auf die Geschichte, in irgendeiner Weise Modellwirkung entfalten?

Weiß: Ganz ohne Blick auf die Geschichte hat Österreich für die deutsche Rechte eine klare Vorbildfunktion. Seit Jahren hat die deutsche Rechte von einer deutschen FPÖ geträumt. Mit der AfD hat es geklappt. Die deutschen Identitären werden wesentlich von Österreich aus geprägt. Österreichische Rechtsverlage wie Leopold Stocker oder Ares, Zeitschriften wie die "Aula" waren auch immer für die bundesdeutsche Rechte relevant. Die Milieus sind eng verzahnt. Über die Identitären spotte ich immer, sie seien das letzte "alldeutsche" Projekt.

STANDARD: Was wären mögliche unmittelbare Auswirkungen der Verhältnisse in Österreich?

Weiß: Die derzeitige österreichische Regierungskoalition weckt ganz sicher Begehrlichkeiten. Ich fürchte, in einigen Regionen wie etwa Sachsen ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Bürgerlich-Konservativen auf die AfD einlassen, um regieren zu können. Es hängt viel vom Bürgertum ab, und es gibt ernsthafte Aufweichungserscheinungen, wie jüngst die "Erklärung 2018" (Aufruf rechter Schriftsteller und Intellektueller gegen "illegale Masseneinwanderung", Anm.) gezeigt hat.

STANDARD: Der ungarische Premier Viktor Orbán plädiert ganz offen für die "illiberale Demokratie". Er könnte ebenso gut autoritärer Staat sagen. Zugleich sagt Orbán: "Heute fühlen wir, dass wir die Zukunft Europas sind." Ohne einen direkten Vergleich ziehen zu wollen: Auch Hitler sah sich als Retter Europas, in seiner Version vor der Bedrohung durch Bolschewismus und Judentum. Wie sehen Sie Orbáns Rolle?

Weiß: Hitler-Vergleiche schlagen meist fehl. Wenn wir unbedingt historische Vergleiche suchen, passen eher jene Politiker, die zwischen Konservatismus und Faschismus schwankten, zwischen Ständestaat und Diktatur, beispielsweise Franz von Papen in Deutschland oder Engelbert Dollfuß in Österreich. Man braucht Hitler nicht – Carl Schmitt, der bis heute als Stichwortgeber der Neuen Rechten fungiert, hatte sein autoritäres Staatsrecht bereits vor Hitler konzipiert.

STANDARD: Bei allen Unterschieden: Könnte man unterschwelligen Antisemitismus und offenen Antiislamismus als eine gemeinsame ideologische Klammer der rechtspopulistischen Bewegungen sehen?

Weiß: Ich fürchte, so unterschwellig ist der Antisemitismus nicht. Immerhin hat der eng mit der AfD verbundene Verleger Kubitschek in Deutschland mit "Finis Germania" von Rolf Peter Sieferle den ersten antisemitischen Bestseller seit dem Zweiten Weltkrieg im Programm. Und einer seiner Autoren, der Österreicher Martin Semlitsch/"Lichtmesz", hat auf der Frankfurter Buchmesse eine politische Gegenspielerin antisemitisch beschimpft. Das ganze Gerede vom angeblichen "Schuldkult" ist antisemitisch. Und was den Islamismus betrifft, sehe ich meist mehr Ähnlichkeiten als Feindschaften. Man lehnt mehr die Einwanderung ab als die Ideologie. Im Wertekanon sind sich europäische Ultrarechte und Islamisten sehr ähnlich. (Josef Kirchengast, 11.4.2018)