Eine Sinn-Féin-Aktivistin protestiert gegen den Brexit.

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Der zwanzigste Jahrestag des Karfreitagsabkommens, das den bewaffneten Konflikt in Nordirland beilegte, bietet wenig Anlass zum Feiern. Die Institutionen, die die verfeindeten Bevölkerungsgruppen zusammenführen hätten sollen, sind suspendiert und die Frage der irischen Grenze nach dem Brexit bleibt ungelöst. Doch der EU-Austritt offenbart innerhalb Nordirlands auch neue Widersprüche.

Nordirlands Weg nach Europa

Richtige Europa-Enthusiasten gab es in Nordirland traditionell wenige. Als 1973, zum Höhepunkt der gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Region, das Vereinigte Königreich mit Nordirland und die Republik Irland, den Europäischen Gemeinschaften beitraten, taten dies die beiden Staaten vor allem aus ökonomischen Erwägungen.

Die protestantischen Unionisten in Nordirland sahen bereits damals die britische Souveränität und letztlich den Zusammenhalt des Königreiches durch die EG bedroht. Die Radikalen unter ihnen wetterten sogar gegen die "satanische" Verschwörung der Wirtschaftsgemeinschaft, in der ja eindeutig Katholiken die Mehrheit stellten.

Die katholisch-irische Bevölkerung hingegen stand der EG deswegen skeptisch gegenüber, da sie im liberalen Binnenmarkt ihre Chancen auf die Durchsetzung von Bürgerrechten und Sozialreformen geschmälert sah, für die sie seit den 1960er Jahren vehement eingetreten war. Für die Hardliner auf dieser Seite war ohnedies alles, was die irische Identität nach ihrer Lesart hätte beeinflussen können, todfeind.

So überrascht es wenig, dass beim ersten Referendum über den Verbleib des UK in der Europäischen Gemeinschaft 1975 die Nordiren deutlich euroskeptischer votierten (52 Prozent pro European Economic Community), als die Wähler des UK insgesamt (67 Prozent pro EEC).

Europas Beitrag zum irischen Frieden

In den 1990er Jahren begannen sich jedoch die Fronten in Bezug auf Europa langsam zu verschieben. Visionäre wie der Katholik John Hume, die von Beginn an die Europäische Einigung als Vorbild für eine friedliche Lösung des Nordirland-Konfliktes propagiert hatten, konnten ihre Ideen im Post-Maastricht-Europa glaubwürdiger verbreiten als zuvor. Wenn sich Franzosen und Deutsche nach zwei Weltkriegen wieder versöhnen konnten, so Humes These, müsse dies doch auch zwischen Protestanten und Katholiken in Belfast und Derry möglich sein. Dabei erhielt die Avantgarde der Friedensbemühungen auch Rückendeckung von den EU-Institutionen selbst, die mit zusätzlichen Strukturfonds Ansätze von Aussöhnung und grenzüberschreitender Zusammenarbeit finanziell unterstützten.

Hinzu kam, dass mit der Umsetzung des Binnenmarktes 1993 die Zollschranken zwischen den beiden Teilen der irischen Insel fielen, und mit dem Abzug der britischen Armee im Zuge des Friedensprozesses somit die sichtbaren Barrieren zwischen der Republik Irland und dem Norden verschwanden. Somit verlor einer der Hauptangelpunkte im Nordirland-Konflikt, die umstrittene Grenze zwischen Norden und Süden, einen großen Teil seiner streitbaren, symbolischen Bedeutung.

Ende der 1990er Jahre war ein Klima geschaffen, in dem das friedliche Zusammenleben in Nordirland zwar auf wackeligen Beinen stand, allerdings die wichtigsten politischen Fragen am Verhandlungstisch gelöst wurden – so auch Themen der Europapolitik. Auch wenn das gemeinsame Engagement nordirischer EU-Politiker meist nur am Heischen um Fördergelder auszumachen war, bedeutete dies – nach drei Jahrzehnten Bürgerkrieg – doch einen qualitativen Sprung nach vorne.

Brexit und Friedensprozess: ein Widerspruch?

Doch mit dem Brexit-Referendum 2016, in dem knapp 56 Prozent der Nordiren für den Verbleib in der EU stimmten, tun sich Fragen zu Identität und Souveränität der einzelnen Bevölkerungsgruppen auf, die im Geiste des Friedensabkommens vor 20 Jahren zumindest oberflächlich gelöst zu sein schienen.

Die protestantische Mehrheit hält eisern an der Union mit Großbritannien fest und die stärkste Partei in ihrem Lager, die Democratic Unionist Party (DUP), trommelt mit Theresa Mays Tories für einen "harten" Brexit. Auch lehnt sie jede Sonderstellung Nordirlands nach dem EU-Austritt dezidiert ab – ein solcher käme ja einer Vorstufe zur Auflösung des UK gleich! Allerdings weiß die DUP um die wirtschaftliche Bedeutung der Binnenmarkt-Freiheiten auf der Insel, vor allem für ihre landwirtschaftlich geprägte Wählerschaft. Wie die Regierung in Westminster blieb aber auch die DUP bis dato ein Konzept dafür schuldig, wie der Austritt aus dem Binnenmarkt und der Zollunion mit einer offenen Grenze zu vereinbaren wären.

Auf Seite der Katholiken erlitten die Pro-Europäer um Hume in den vergangenen 20 Jahren verheerende Wahlniederlagen. Heute dominiert in ihrer Community die radikalere Sinn Féin. Sie tritt seit dem Referendum dezidiert gegen den Brexit auf und fordert nun einen Sonderstatus für Nordirland innerhalb der EU. Dies solle mittelfristig den Weg zu einem vereinigten Irland ebnen. Wie auch immer geartete Grenzkontrollen lehnt Sinn Féin strikt ab und warnt davor, dass diese zu Zielen von Attacken radikaler Parteigänger und Dissidenten werden könnten. Allerdings sind die all zu EU-freundlichen Töne für Sinn Féin ein riskantes Spiel. Denn sie will auch Wahlen im Süden Irlands gewinnen – und traditionelle Europakritik war stets ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Sinn Féin und dem pro-europäischen Establishment in Dublin, dem sie nun das Wort zu reden scheint.

Zwei Jahrzehnte nach dem Friedensabkommen von Belfast überlagert sich somit die Frage der zukünftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union mit der Problematik des weiteren Friedensprozesses in Nordirland. Auch wenn diese beiden Dynamiken unterschiedlichen Logiken folgen, müssen etwaige Lösungsansätze doch ineinandergreifen, will man verhindern, dass die Bemühungen der letzten 20 Jahre nicht vergebens waren. (Patrick Utz, 11.4.2018)