Corinna Kirchhoff inspirierte Regisseure wie Peter Stein und Luc Bondy mit Anmut und Widerborstigkeit.

Foto: Bernd Uhlig

In den Kreis der Berliner Schaubühnen-Stars flog Corinna Kirchhoff wie ein anmutig flügelschlagender, dabei hell gefiederter Vogel. In Peter Steins legendärer Aufführung von Tschechows Drei Schwestern gab sie 1984 die Irina. Rund um sie – zu schlechter Letzt auch in ihr – herrschte das Gleichmaß dreier Leben auf der Schmalspurbahn.

Es passiert bekanntlich nicht viel in Tschechows zweitberühmtestem Stück (nach dem Kirschgarten). Es herrscht bloß das durchdringende Licht nüchterner Verstandestätigkeit. Die Figuren betrauern die Vergeudung ihrer besten Anlagen. Nur damals, für Kirchhoffs Irina, wohnte jeder noch so beiläufigen Begebenheit der Zauber des Anfangs inne.

In diesem Mädchen aus der Provinz glomm ein Draht, dessen Glut kein noch so misslicher Umstand – der Postdienst, der Verlust des Bräutigams – auszulöschen vermochte. Kirchhoff war die jüngste im Kreis der Schaubühnen-Dusen. Im Vergleich mit ihr schien Jutta Lampe abgründiger, Edith Clever besaß die mehr priesterliche Allüre.

Kirchhoff gehörte bereits zur zweiten Schaubühnen-Generation, zur Neuauflage des Hauses am Lehniner Platz. Kirchhoff war von vornherein welthaltiger als ihre Kolleginnen. Sie verkörperte Gören und Damen und war Die Fremdenführerin in Botho Strauß' gleichnamigem Stück von 1986 (Regie: Luc Bondy). Noch heute – Kirchhoff spielt am Burgtheater ab Samstag O'Neill – hält sie zu allen Modeerscheinungen am Theater einen sicheren Abstand.

Fleisch an den Figuren

Die Figuren, die Kirchhoff spielt, würde sie um keinen Preis der Welt dem Gelächter preisgeben. Sie sagt: "Schauspieler, die von vornherein wissen, wo es langgeht mit einer Figur? Ich glaube zutiefst, das Geniale des Theaters besteht in seinem inkarnatorischen Prozess. Im Ernst der sich einlassenden Bewegung, im Eingehen in die Figur, in ihrer ,Fleischwerdung'."

Kirchhoff wühlt sich in Gestalten hinein. Sie spielt jetzt in der Regie von Andrea Breth die Mary Tyrone in Eugene O'Neills wüst-trunkener Familienaufstellung Eines langen Tages Reise in die Nacht. Zum Interview erscheint sie todmüde, von der Probenarbeit abgezehrt. Corinna Kirchhoff ist eine Gesprächspartnerin von nachgiebiger Freundlichkeit. Der Weihedienst der Tempeldienerin, der schmallippige Verweis jeder Form von Allotria – die Ordensregeln so vieler Peter-Stein-Schauspielerinnen sind ihr fremd.

"Die Figurenfindung ist ein absolut strapaziöser Prozess", betont Kirchhoff. "Wenn man einmal diesen grausamen Weg der Einfühlung eingeschlagen hat – wobei Einfühlung immer so kosmetisch harmlos klingt! -, dann gibt es aber durchaus Möglichkeiten, perspektivisch zu springen. Dann kann man zum Beispiel einen Blick von außen auf sich selbst richten, auf die darzustellende Figur, und wie sie auf sich selbst blickt."

Trauer um die "Ehe"

In ihren aufregendsten Rollen konnte man stets etwas von dieser Beobachtung zweiten Grades spüren. Als sie 2002 in Schnitzlers Das weite Land bei den Salzburger Festspielen die Genia gab, zierte die Trauer um die zerrüttete Ehe mit dem Fabrikanten Hofreiter (Sven-Eric Bechtolf) ihr Antlitz wie eine bürgerliche Jugendstilmaske. Kirchhoff verschmilzt mit ihren Figuren. Zugleich wird eine Art von Kommentar erlebbar, eine Haltung, die das Verrutschen des bürgerlichen Charakters anzeigt.

Auch damals führte Andrea Breth Regie. Auch jetzt, bei O'Neill, spielt Bechtolf ihren ehelichen Widerpart, den selbstverliebten Schauspieler Tyrone Power. Er heizt seinen Selbstekel mit Feuerwasser an. Sie betäubt ihren Schmerz mit Morphium.

Die Frage nach den Umrisslinien von Figuren beschäftigt Kirchhoff unvermindert. Sie nennt Begriffe wie "Verstrickung" und "Tiefe". An O'Neills Stück interessieren sie die "archaischeren Kontexte aus der Tragödie". Kirchhoff bringt Figuren durch "Sprache, Geist, Sehnsucht, Glauben" zum Verschwimmen. Spannung entsteht für sie "durch die Rückbindung an die Physis".

Früher, an der Schaubühne, wären die Schauspieler mit Wissen vollgestopft worden. "Man sprach über die historischen oder politischen Ringe, die rund um ein Stück gelegt und erforscht worden waren." Die Intuition wurde angereichert, "die Fantasie ernährt". Heute sei der Posten des Dramaturgen im Probenprozess weitgehend abgeschafft. "Besteht womöglich die ,Allmacht' des Regisseurs darin, sich nicht mehr dazwischenreden zu lassen?" Kirchhoffs Frage ist natürlich rhetorisch. Andrea Breths Materialmappen sind dick genug. (Ronald Pohl, 12.4.2018)