Es ist ein trauriger Moment für eine liberale Demokratie, wenn sie sich mit Kleidervorschriften für den weiblichen Teil der Bevölkerung zu beschäftigen beginnt. Ja, Nikabträgerinnen mögen in ihrer radikalen Ästhetik und Botschaft manchen Angst machen. Und ja, kleine Mädchen, denen die Eltern ein Kopftuch aufsetzen, müssen einem zutiefst erbarmen. Das Selbstbild, das ihnen beigebracht wird, hat in einer modernen Gesellschaft nichts verloren. Auch die meisten befragten Lehrerinnen stehen einem Verbot, obwohl sie das Problem als marginal bezeichnen, eher positiv gegenüber.

Und doch macht sich angesichts des staatlichen Eifers ein Unbehagen breit, ein prinzipielles Misstrauen die Intentionen des Gesetzgebers betreffend. Es sind Versuchsballone, einstweilen schlägt man den Sack, gemeint ist der – Pardon – Esel. Die FPÖ sagt das ja auch ganz offen.

Aber wer ist das nun, dieser sprichwörtliche Esel? Und da kippt meine Stimmung wieder in die andere Richtung. Sind es "die Musliminnen"? Nein, die sind es nicht. Die meisten Musliminnen tragen kein Kopftuch: auch wenn die Vertreterinnen des offiziellen Islam nicht nur in Österreich auf bildlicher Ebene etwas anderes kommunizieren.

Die große Lücke

Da klafft, zumindest für informierte Beobachter, eine Lücke, die mit zunehmender Brisanz – immerhin beginnt der Diskurs über den Islam ja unseren Staat zu verändern – immer schmerzlicher wird. Auf der einen Seite stehen jene, die den Islam, den sie mit Migration gleichsetzen, als das ewige und unveränderliche Andere darstellen. Das ist dumm und falsch. Auch die Behauptung, dass nur der Islam radikale Ausprägungen hervorbringt, ist ahistorisch. Das ist die eine Seite.

Auf der anderen sehen wir aber nur jene bekopftuchten Frauen in Großaufnahme, die von den islamischen Institutionen und Vereinen vorgeschickt werden, um "die Musliminnen" und den Islam zu verteidigen. Sie definieren für die Öffentlichkeit, was der Islam und was eine Muslimin ist, ob sie das nun wollen oder nicht – aber da sie Funktionärinnen sind, ist auch anzunehmen, dass sie das wollen.

Was nun der Koran als Bedeckung verlangt oder – eher – nicht verlangt, geht uns Außenstehende nichts an. Aber zwei Gedanken dazu, quasi ins Stammbuch geschrieben: Wenn der Chef der Islamischen Glaubensgemeinschaft (IGGÖ) das Kopftuch für geboten erklärt, dann ist die Wahlfreiheit – die in individuellen Familien mit kopftuchtragenden Müttern und nichtkopftuchtragenden Töchtern oder umgekehrt gut funktionieren mag – auf institutioneller Ebene eine leere Behauptung. Die pubertierenden muslimischen Sittenwächter in den Schulen, die kopftuchfreie Musliminnen schikanieren, wissen das Gesetz hinter sich. Es gestattet ihnen zumindest Geringschätzung.

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Die meisten Musliminnen tragen kein Kopftuch: auch wenn die Vertreterinnen des offiziellen Islam auf bildlicher Ebene etwas anderes kommunizieren.

Foto: Getty/Montes-Bradley

Was ist geschehen?

Der zweite Gedanke ist eine Erinnerung. Vor wenigen Tagen fand eine Veranstaltung im Gedenken an Smail Balic statt. Im Überblick, den die IGGÖ auf ihrer Homepage über ihre Geschichte gibt, kommt der aus Bosnien stammende Österreicher als einer der Gründerväter vor. Nun war Balic Vertreter einer rationalen Richtung des Islam, der Neomutazila – das hier zu erklären, tut nichts zur Sache -, die Muslime frei sind, zu wählen oder zu lassen. Dennoch: Was ist geschehen, seit Balic seine Auffassung von der Rolle der Muslime in der europäischen Gesellschaft formuliert hat, die ich zur Zeit meines Studiums der Islamwissenschaften kennenlernen durfte? Das Bedeckungsverbot im Koran war für ihn gleichsam eine Integrationsempfehlung in die Gesellschaft. Dazu gehörte im Östereich des späten 20. Jahrhunderts: kein Kopftuch, denn es würde die muslimischen Frauen von der Mehrheitsgesellschaft trennen.

Wir sind jetzt schon länger im 21. Jahrhundert, und die Kopftücher sind mehr geworden, viel mehr, angefangen hat das nicht in Europa, sondern in der islamisch geprägten Welt. In ihrem Gastkommentar gegen das Verbot von Kopftüchern für kleine Mädchen schreibt Carla Amina Baghajati im STANDARD, dass die muslimische Mehrheit in Österreich "längst in der Mitte angekommen ist". Ja, aber an dem, was die "Mitte" sein soll, wird – zumindest ist das ein Gefühl vieler – gerüttelt.

Auch ohne Balic: Ist die Mitte nicht ein Kompromiss, der dadurch erreicht wird, dass wir uns alle etwas zurücknehmen? Eine "Kultur der kontextsensiblen Zurücknahme" nennt es der Soziologe Kenan Güngör. Ich will die Mitte nicht alleine definieren, aber ich will auch nicht, dass jemand anderer – jemand, der seine religiöse Identität über alles stellt – die Definitionshoheit für sich beansprucht.

Nicht ideal, aber gut

Liebe Muslime und Musliminnen! Wenn Ihr wollt, dass es in Österreich für religiöse Minderheiten so bleibt, wie es ist, dann müsst ihr euch genau für diese Gesellschaft, inklusive ihrer religiösen Neutralität, einsetzen. Sie ist nicht ideal, aber wir haben nichts Besseres. Ich bin bereit, das Recht aufs Kopftuch – das ich weder emotional noch intellektuell verstehe – lautstark zu verteidigen. In dem Moment, in dem ich das Gefühl habe, ich verteidige Räume für Kräfte, die selbst Räume verengen, bekomme ich ein Problem.

Ich setze mich nicht für Pluralität ein, damit eine Gruppe entpluralisiert leben kann. Dass genau diese Gefahr droht, das wird von den meisten Islamfunktionären negiert.

"Ich setze mich nicht für Pluralität ein, damit eine Gruppe entpluralisiert leben kann."
Foto: Getty Images/iStockphoto

Frage: Was ist gut für Muslime und Musliminnen? Antwort: mehr Islam. In der Nähe der Universität Wien wurden nun Gebetsräume für muslimische Studenten und Studentinnen eingerichtet, die ihnen die Erfüllung der islamischen Pflichten erleichtern sollen. Und natürlich das unter sich Sein. Ein Triumph der Diversität?

Folgende Szene hat demnach nicht stattgefunden: Ein muslimischer Student kommt zu einem Islamfunktionär und klagt ihm sein Leid über fehlende Gebetsmöglichkeiten an der Uni. Der Funktionär sagt ihm: "Lieber junger Freund, ich weiß, ich weiß. Ich bitte dich aber zu bedenken, wo du lebst. Die Universität ist hier ein religionsfreier Raum – und, wenn ich so sagen darf, Gott sei Dank, denn das ist gut für alle. Wenn du, weil dir dein Studium so wichtig ist, mit deinen Gebetszeiten durcheinander kommst, wird dir Gott das gerne nachsehen. Das kann ich dir garantieren."

Nein, das ist offenbar nicht drin. Oder nicht mehr?

Engführung des Islam

Die Engführung des Islam, die Entfernung mancher Muslime und Musliminnen aus der Mitte, die für alle da ist, wird nicht nur nicht thematisiert, sondern von manchen geradezu zelebriert. Die konservative Welle, die die islamisch geprägte Welt im letzten Drittel des 20. Jahrhundert erfasst hat – wozu der Westen politisch beigetragen hat -, ist auch auf die europäischen islamischen Gemeinden übergeschwappt. Auch wenn sie selbst so tun, als ob ihr Islam, wie sie ihn jetzt leben, schon immer so war. Das verbindet sie übrigens mit der FPÖ.

Es gibt aber auch anderes: Eine – gläubige – muslimische Freundin hat, als sie an ihrem Arbeitsplatz in einem arabischen Land gedrängt wurde, ein Kopftuch zu tragen, diesen Arbeitsplatz aufgegeben. Oft muss ich an ein Treffen mit ägyptischen Frauen in Kairo vor ungefähr zehn Jahren denken: Sie wolle für ihre Enkelinnen an Freiheit und Freiheiten nur das, was sie selbst in ihrer Kindheit und Jugend gehabt habe, sagte eine alte Dame traurig. Sie war in einer anderen Welt groß geworden und stand der konservativen Wende ratlos gegenüber.

Gerne lege ich Uninformierten Bilder von Mädchenklassen aus den 1950er, 60er, 70er Jahren vor: die kecken Stiefel unterm Mini, die wehenden langen Haare. Wo ist das? Gymnasium Vöcklabruck? Nein, Bagdad, Kabul, Teheran, Kairo ...

Die Kolonialisierten

Darf ich mir bitte wünschen, dass eine österreichische Schulklasse 2018 nicht konservativer aussieht als eine in Damaskus im Jahr 1975? Aber ich fürchte, ich werde zur Antwort bekommen, dass ich das nicht darf, dass die Mädchen auf den Bildern alle arme, kulturell Kolonialisierte waren.

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Mädchen des Lycée Malalai in der afghanischen Hauptstadt Kabul beim Sport im Jahr 1963. Die von Frankreich geförderte Schule gibt es noch heute, die Mädchen sehen allerdings anders aus.
Foto: picturedesk / akg-images / Paul Almasy

Den Hidschab tragenden Musliminnen, die ich kenne, nehme ich es ohne weiteres ab, dass unter ihren Tüchern frei und kritisch denkende Köpfe stecken. Aber manchmal ist die Kritik gar selektiv. Die aktuelle Argumentation öffentlicher Islamvertreterinnen, dass sie die Protestbewegung iranischer Frauen quasi nichts angehe – denn diese demonstrierten ja nur gegen den Zwang, nicht gegen das Kopftuch – verstehe ich nicht.

Da wird über einen hinweggefahren, dass es eine Art hat: Die westliche Sympathie mit den Iranerinnen sei nichts anderes als deren "Ikonisierung", "in kolonialer Tradition", haut uns Dudu Kücükgöl von der Muslimischen Jugend (MJÖ) im Kurier um die Ohren. Danke recht schön.

Von der IGGÖ gibt es Stellungnahmen zuhauf: pünktliche Verurteilungen aller islamistischer Terroranschläge (natürlich ohne Hinweis auf eine innerislamische Problematik), aber auch Solidarisierung mit Muslimen weltweit, zuletzt etwa den Rohingyas in Myanmar, Kritik an Trumps Jerusalem-Entscheidung etc. Also durchaus keine politische Abstinenz. Allerdings wird man vergeblich abzulesen versuchen, wie die hiesigen Islamfunktionäre zur Auseinandersetzung zwischen Staat und Religion in islamisch geprägten Ländern stehen.

Ich habe keine Angst, dass in der IGGÖ Al-Kaida- oder "Islamischer Staat"-Sympathisanten sitzen. An meine Adresse braucht man die diversen Verurteilungen nicht zu richten. Ich habe hingegen keine Ahnung, wie die Glaubensgemeinschaft zur Islamisierung in der Türkei steht, oder dazu, dass in Tunesien Gesetze auf den Weg gebracht werden, die von Al-Azhar in Kairo als unislamisch kritisiert werden, etwa die Gleichstellung der Frauen im Erbrecht.

Ich würde gerne erfahren, wie der offizielle österreichische Islam, wie dessen Vertreter Entwicklungen in Ägypten und dem Irak beurteilen, Atheismus zu kriminalisieren. Ich will wissen, ob sie in unserer öffentlichen religiösen Neutralität ein Modell sehen, das wert ist, exportiert zu werden.

Und sollte ich auf meine Fragen wieder eine Kolonialismusohrfeige bekommen, dann ist das eben auch eine Antwort. Wenn auch nicht die erhoffte.

(Gudrun Harrer, 14.4.2018)