wei Palästinenser suchen Schutz vor der Sonne, während sie die erneuten Proteste an der Grenze zu Israel verfolgen

Foto: APA/AFP/MOHAMMED ABED

Der Brief erreichte die Öffentlichkeit am Freitagmorgen, wenige Stunden bevor wieder tausende Palästinenser in Gaza an der Grenze zu Israel protestierten, einige von ihnen auch mit Steinen, Molotowcocktails und anderen explosiven Wurfgeschossen bewaffnet. 34 Menschen kamen bei den Protesten in den vorigen Wochen bereits ums Leben. Mehr als 2000 wurden dabei verletzt, einige durch die scharfe Munition israelischer Soldaten – am Freitag waren es wieder über 500 Verletzte.

Genau darauf zielt nun der Brief ab, den fünf ehemalige Scharfschützen der israelischen Armee und Mitglieder der Menschenrechtsorganisation "Schowrim Schtika" ("Breaking the Silence", BtS) geschrieben und an verschiedene Zeitungen geschickt hatten, die ihn am Freitag teilweise veröffentlichten: "Wir sind von Sorge und Scham erfüllt, da wir von den Militärbefehlen erfahren, die es erlauben, scharf auf unbewaffnete Demonstranten zu schießen", schreiben die fünf Soldaten.

Sie haben den Brief namentlich unterzeichnet, darunter Avner Gvaryahu, Schowrim-Schtika-Geschäftsführer. Sie würden Scham für die Befehle durch jene empfinden, denen es an Moral und Ethik fehle, und sie hätten Sorge um die jungen Soldaten, denn: "Wir wissen aus eigener Erfahrung sehr gut, dass sie für immer die Szenen mit sich herumtragen werden, die sie durch das Visier ihrer Waffen gesehen haben."

Scharfschießen

In Israel war es die linksliberale Tageszeitung Haaretz, die den Brief abdruckte, in Europa waren es El País in Spanien, De Standaard in Belgien und The Guardian in Großbritannien. Es ist ein Brief, der wachrütteln soll und der deutlich macht, dass der Einsatz der Armee an der Grenze zum Gazastreifen durchaus kritisch gesehen wird.

Zuletzt erklärte Bataillonskommandeur Chaim Cohen im Armeeradio, dass auf Anstifter und Protestanführer scharf geschossen werden darf – auch dann, wenn diese selbst nicht bewaffnet sind. Die Armee gebe zuerst Warnrufe und Warnschüsse ab, dann werde auch scharf geschossen. Unter den zehntausenden Teilnehmern des "Marschs der Rückkehr" an der Grenze zu Israel, der am Freitag zum dritten Mal in Folge stattfand, befinden sich auch bewaffnete, gewaltbereite Palästinenser. Die Hamas, von der EU als Terrororganisation eingestuft, hat sich längst unter die Demonstranten gemischt. Ihr Chef in Gaza, Yahya Sinwar, hatte angekündigt, man wolle den Grenzzaun durchbrechen, um nach Israel vorzudringen.

Auch am vergangenen Freitag warfen einige Demonstranten laut Armeeangaben Brandsätze und explosive Gegenstände, wieder sollen einige versucht haben, den Grenzzaun zu durchbrechen. Das Szenario ist bedrohlich. Dennoch steht die Frage im Raum, ab wann der Einsatz scharfer Munition gerechtfertigt ist. Oder wie es passieren konnte, dass sich unter den Opfern ein palästinensischer Journalist befindet, der eine Schutzweste mit der Aufschrift "Presse" trug.

Organisationen wie Schowrim Schtika oder B'tselem, die Einsatzbefehle infrage stellen, gelten in Israel als Nestbeschmutzer und Verräter. "Wir haben in den vergangenen Tagen mehrere Interviews im Radio und im Fernsehen gegeben", sagt Jehuda Schaul, Mitgründer von Schowrim Schtika. "Doch leider ist in den Medien heute nur noch wenig Raum, nachzuhaken und zu kritisieren, wenn es um die Ergebnisse der Einsätze geht oder darum, unsere Verantwortung zu diskutieren."

Kritik ist unerwünscht, das machen auch Regierungspolitiker immer wieder deutlich. Verteidigungsminister Avigdor Lieberman rechtfertigte jüngst den Tod des palästinensischen Journalisten Yaser Murtaja: Der sei ein Mitglied der Hamas und habe mit einer Kameradrohne israelische Einsatzkräfte ausspioniert. Die Tageszeitung Haaretz berichtete nun allerdings unter Berufung auf die Nachrichtenagentur AFP, Murtaja sei 2015 sogar von Hamas-Aktivisten krankenhausreif geschlagen worden, weil er seine Aufnahmen nicht vorzeigen wollte. (Lissy Kaufmann aus Tel Aviv, 14.4.2018)