Es ist neun Uhr morgens, der Himmel strahlend blau und die Luftfeuchtigkeit liegt bei über 70 Prozent. Ich werfe einen Blick auf den Pool vor mir und freue mich schon darauf, später kurz reinzuspringen. Doch davor treffe ich Lynne Scullard, kurz Scully, sie ist unser "Experience Leader" von Unsettled hier auf Bali.

Dass die Südafrikanerin diesen Monat ihren 52. Geburtstag feiert, nimmt man ihr nicht wirklich ab. Sie ist junggeblieben und energiegeladen. Vor fünf Jahren gründete sie in Südafrika eine Scooter-Fahrschule und hat über diesen Weg mehr als 1.600 arbeitslosen Menschen den Einstieg in das Berufsleben ermöglicht – neben dem Mopedfahren wird den Teilnehmern nämlich unternehmerisches und finanzielles Grundwissen vermittelt. Unlängst wollte sie etwas Neues ausprobieren, gab die Mehrheitsanteile an ihrer Firma ab und wurde Teil von Unsettled. Sie kommt mir mit einem Lächeln entgegen, schenkt sich balinesischen Kaffee, "Kopi Bali", ein und wir schlendern gemeinsam in den Yoga-Raum. 

Lynne Scullard ist diesen Monat die Hauptansprechpartnerin für die Unsettled-Teilnehmer auf Bali.
Foto: Alexandra Eder

Auswahlprozedere für Team und Teilnehmer

Wie alle Personen, die bei Unsettled arbeiten – und auch jene, die an dem Programm teilnehmen wollen – wurde Scully vor ihrem Eintritt von den Gründern des Unternehmens, Jonathan Kalan und Michael Youngblood, unter die Lupe genommen. Persönlich getroffen hat sie die zwei Amerikaner, die beide einen eindrucksvollen Lebenslauf aufweisen, noch nie. In dem Unternehmen wird Remote Work nicht nur angeboten, sondern auch gelebt. Ein gemeinsames Büro gibt es nicht. 

Ich wundere mich, wie so etwas funktionieren kann, und auch Scully versichert mir: "Ich habe so etwas noch nie erlebt – und ich habe schon in vielen Unternehmen gearbeitet! Aber die beiden haben ganz offensichtlich eine wahre Begabung, wenn es darum geht, die richtigen Personen auszuwählen. Denn es funktioniert."

Als Experience Leader ist sie in erster Linie für die Unterstützung der Teilnehmer zuständig, egal ob es um verlorene Handys, Restaurant-Tipps oder um das Arrangieren von gemeinsamen Veranstaltungen geht. Sie ist Teil der Gruppe und wohnt in der gleichen Unterkunft wie wir – die ganze Abwicklung, die hinter dem Programm steckt, scheint informal und entspannt abzulaufen. Doch das ist Teil des Plans, wie sich herausstellt. Scully versichert mir nämlich, dass genau das Gegenteil der Fall ist: "Wir wollen eine Erfahrung auf höchstem Niveau anbieten und die Besten in unserem Bereich sein. Dafür ist eine erstklassige Organisation bis ins kleinste Detail unentbehrlich."

Die Köpfe dahinter

Auch ich habe vor meinem Aufenthalt ein kurzes Skype-Gespräch mit Kalan geführt. Als Fotograf und Journalist hat er für namhafte Medienunternehmen wie BBC oder die New York Times die Welt bereist. Mich begrüßte ein vollbärtiger, junger Mann in US-Manier fast schon überschwänglich freundlich aus einem Café in Kambodscha. Er wollte innerhalb von zehn Minuten so viel wie möglich über meinen bisherigen Werdegang, meine Persönlichkeit und meine Erwartungen und Ziele für Unsettled wissen – bevor dann sein nächster Call startete.

Der Zweite im Bunde ist Michael Youngblood. Er hat Menschen aus aller Welt auf verschiedenste Abenteuerreisen mitgenommen und sie in und durch diese Ausnahmesituationen geleitet. Nicht nur praktisch, sondern auch wissenschaftlich befasst er sich mit der Gründung neuer Firmen und der Beratung von Jungunternehmern. 

Um uns die Denkweise näherzubringen, in der Unsettled gegründet wurde, hat Scully unserer Gruppe Youngbloods TED-Talk "Discover your true north", in einem Workshop vorgespielt. Für mich war die spürbar große Achtung, fast schon Ehrfurcht für die Gründer und deren Arbeit etwas befremdlich – wenngleich es tatsächlich bemerkenswert ist, was sie auf die Beine gestellt haben. 

TED Residency

Erwartungen und Realität

Auf die Frage, für welchen Menschenschlag Unsettled geeignet ist, meint Scully grinsend: "Gute Frage, ich habe sie mir selbst erst gestellt und keine wirklich zufriedenstellende Antwort darauf gefunden, weil die Teilnehmer so unterschiedlich sind." Oft seien es Personen, die auf der Suche nach Abenteuern, Herausforderungen, Inspiration und neuen Erfahrungen sind. Das sei aber zu kurz gegriffen: "Ich denke, es geht einfach darum, der Mensch sein beziehungsweise werden zu können, der man sein will."

Auch die kleinen Probleme, von denen sie mir erzählt, spiegeln die Diversität innerhalb der Gruppe wieder. Hier auf Bali gab es beispielsweise häufiger Beschwerden über Dinge wie Ameisen im Zimmer oder über die Klimaanlage, was ich so nicht erwartet hätte. Für Scully ist das nichts Neues: "Man bringt 30 Personen für einen Monat an einem unbekannten Ort zusammen, oft in einem Entwicklungsland, und fernab von all dem Luxus, den sie aus ihrem Alltag gewohnt sind. Meistens sind es gar keine wirklichen Probleme, die zum Vorschein kommen. Es geht eher um Annehmlichkeiten. Ich versuche dann, so gut es geht, zu helfen."

Mein subjektiver Blick

Aus meiner Erfahrung nach zwei Wochen auf Bali kann ich unterstreichen, was Scully über die Teilnehmer sagt. Die meisten meiner Kollegen sind auf der Suche nach persönlicher Weiterentwicklung – es geht meistens weniger um Remote Work oder professionellen Austausch, mehr um Selbstfindung. Dass sie den beruflichen Aspekt nicht erwähnt hat, wundert mich deshalb nicht. Bewusst wurde mir das vor allem bei verschiedensten Gruppenaktivitäten zu Beginn des Aufenthalts, die allesamt von Scully geleitet wurden. Das ging vom "Speedfriending" über einen Workshop zum Thema "Wish and Gift" – hier wurde herausgearbeitet, was man sich für diesen Monat wünscht und mit welchem Know-how und welchen Kompetenzen man die anderen Teilnehmer bereichern kann – bis hin zum gemeinsamen Motorradausflug quer über die Insel.
 
Das hatte ich anders eingeschätzt. Für mich fühlt es sich mehr wie eine erwachsenere und kürzere Version meines Erasmus-Aufenthaltes während des Studiums an, was ohne Frage eine Bereicherung für mein Leben und meine Persönlichkeit war. Doch hätte ich mir einen stärkeren Austausch auf beruflicher Ebene erwartet, was wahrscheinlich auch stark von der jeweiligen Gruppe und den eigenen Zielen abhängig ist – was nicht ist, kann ja noch werden.

Was ich aus dem Gespräch mit Scully außerdem mitnehme, ist, dass die gesamte "Unsettled-Experience" außerordentlich gut durchdacht ist. Um ein paar Beispiele zu nennen: Teilnehmer werden immer wieder daran erinnert, welche Hashtags sie nutzen sollen beziehungsweise können, wenn sie Bilder posten. In der vorab auszufüllenden "Experience Design Survey" haben mich ein paar Fragen etwas irritiert, etwa wird nach privaten Social-Media-Accounts und Links zu vergangenen Arbeitsprojekten gefragt. Hinzu kommen sehr persönliche Fragen, beispielsweise wie alt man ist und wie alt man sich fühlt, ob – und was – man raucht, und ob es etwas gibt, das man diesen Monat machen will und vorher noch nie gemacht hat. 

Ich denke, dass das Unsettled-Team dadurch sehr genau weiß, wie ihre Zielgruppe aussieht und so auf die richtigen Leute abzielen kann. Durch die zusätzliche Selektion der Teilnehmer in einem persönlichen Gespräch, das wie eine Art Bewerbungsgespräch abläuft, sichert man sich zusätzlich ab – sodass es nur noch schwer zu Reibungspunkten kommen kann. Kein Wunder, dass unsere Gruppe so harmonisch ist! 

Ausblick: Digital Nomads im Porträt

Um meinen Eindruck der Personen hier auf Bali besser vermitteln zu können, werde ich an dieser Stelle in meinem nächsten Blogbeitrag ein paar meiner Remote-Work-Kollegen vorstellen. Wer das nicht verpassen will, kann sich hier für den Newsletter eintragen! (Alexandra Eder, 19.4.2018)

Weitere Beiträge der Bloggerin

Hinweis: Die Bloggerin wurde nach einer Bewerbungsphase auf Einladung von DER STANDARD in den Coworking-Retreat geschickt. Sie berichtet zweimal pro Woche über ihre Erfahrungen, ihre persönlichen Eindrücke, das Leben von digitalen Nomaden und das Arbeiten in einem Schwellenland. Die Aktion wird in Zusammenarbeit mit der Firma Unsettled durchgeführt. Die inhaltliche Verantwortung liegt zur Gänze beim STANDARD.