Hans Asperger um 1940. Der Kinderarzt prägte die Heilpädagogik in Österreich über Jahrzehnte, seine Rolle im Nationalsozialismus blieb lange unterbelichtet.

Foto: Wiener Stadt- und Landesarchiv

1940 wurde Asperger von der Gauleitung Wien ein gutes Zeugnis ausgestellt: Obwohl gläubiger Katholik, gehe er "in Fragen der Rassen- und Sterilisierungsgesetzgebung mit den nationalsozialistischen Ideen konform".

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"Untragbare Belastung": Aspergers handschriftliche Überweisung der dreijährigen Herta S. in die Anstalt "Am Spiegelgrund", wo sie drei Monate später starb.

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Wien – Am 27. Juni 1941 besiegelt Hans Asperger mit folgenden Zeilen das Schicksal der knapp dreijährigen Herta S.: "Schwere Persönlichkeitsstörung (postenzephalitisch?): schwerster motorischer Rückstand, erethische Idiotie, Fraisenanfälle. Das Kind muss zuhause für die Mutter, die noch für fünf gesunde Kinder zu sorgen hat, eine untragbare Belastung darstellen. Dauernde Unterbringung auf dem 'Spiegelgrund' erscheint unbedingt nötig."

Vier Tage später wird der Überweisung Folge geleistet: Herta wird in die berüchtigte Anstalt "Am Spiegelgrund" auf der Wiener Baumgartner Höhe verbracht, nach zwei Monaten ist sie tot. Laut Aktenvermerk starb sie an einer Lungenentzündung – die häufigste offizielle Todesursache am Spiegelgrund, wo ab 1940 systematisch Kinder ermordet wurden, die Ärzte als "bildungsunfähig" und "lebensunwert" klassifiziert hatten.

Rädchen im System

Die Geschichte der Herta S. ist nicht der einzige Fall, in dem Asperger ein Kind per Diagnose der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie auslieferte: Der Zeithistoriker Herwig Czech von der Medizinischen Universität Wien zeichnet in einer neuen Studie erstmals umfangreich nach, wie der Arzt, Heilpädagoge und Autismusforscher aktiv die Eugenik- und Euthanasiepolitik der Nationalsozialisten unterstützte. "Asperger war kein überzeugter Nazi, aber es ging um Karriere, um die Möglichkeit aufzusteigen", sagt Czech zum STANDARD. Das gelang dem ambitionierten Mediziner in den Jahren 1938-45, aber auch darüber hinaus, reibungslos.

Die Forschungsergebnisse, die Czech im Fachblatt "Molecular Autism" vorlegt, dürften international für Aufsehen sorgen. Das Asperger-Syndrom – eine Form des Autismus, die Hans Asperger 1944 als Erster beschrieb – ist einer der wichtigsten nach einer Person benannten medizinischen Fachbegriffe aus dem deutschsprachigen Raum. Der Name Asperger hat längst auch Eingang in Kultur und Alltagssprache gefunden. Über die Verstrickungen des Arztes in den Nationalsozialismus war bislang jedoch nicht nur wenig bekannt, es herrschte lange eine positive Bewertung vor: Asperger, 1906 in Wien geboren, entstammte einem katholischen Umfeld, war kein Mitglied der NSDAP und wurde vielfach als Gegner der nationalsozialistischen Euthanasiepolitik dargestellt, der sein eigenes Leben riskiert habe, um das seiner autistischen Patienten zu retten.

"Politisch einwandfrei"

Erst langsam werden kritischere Stimmen laut, Anfang Mai erscheint etwa ein Buch zum Thema von Edith Scheffer von der University of California, Berkeley. Czechs Auswertung zahlreicher neuer Quellen ergibt schon jetzt ein deutlich differenzierteres Bild: das eines ambitionierten Karrieristen, der trotz ambivalenter Haltung zum NS-Regime von den politischen Bedingungen zu profitieren wusste.

Aspergers Karriere an der Kinderklinik der Universität Wien, deren heilpädagogische Abteilung er ab 1935 für Jahrzehnte leitete, wurde wesentlich von zwei Faktoren beflügelt: zum einen von der Förderung und Protektion durch den strammen Antisemiten und Nationalsozialisten Franz Hamburger, der der Klinik seit 1930 vorstand, zum anderen von seinen eigenen Bemühungen, nach 1938 den Ruf der "politischen Verlässlichkeit" zu erlangen, obwohl er als Katholik galt und der NSDAP nicht beitrat (einigen NS-nahen Organisationen freilich schon, etwa dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund als "Anwärter" im Juni 1938).

"Einschnitte am Volkskörper"

Seine Übereinstimmung mit den "rassenhygienischen" Zielen der Nazis stellte er etwa in einer Publikation 1939 unter Beweis: "Im neuen Deutschland haben wir Ärzte zu unseren alten eine Fülle neuer Pflichten übernommen. So wie der Arzt bei der Behandlung des einzelnen oft schmerzhafte Einschnitte machen muss, so müssen auch wir aus hoher Verantwortung Einschnitte am Volkskörper machen: wir müssen dafür sorgen, dass das, was krank ist und diese Krankheit in fernere Generationen weitergeben würde, zu des einzelnen und des Volkes Unheil, an der Weitergabe des kranken Erbgutes verhindert wird."

Derartige Bekenntnisse wurden erhört: In einer "politischen Beurteilung" Aspergers durch die Gauleitung Wien 1940 heißt es: "In Fragen der Rassen- und Sterilisierungsgesetzgebung geht er mit den nat.soz. Ideen konform. In charakterlicher sowie politischer Hinsicht gilt er als einwandfrei." Anders wäre auch nicht denkbar, dass Asperger nicht nur seinen Posten an der Universitätsklinik behalten konnte, sondern zusätzlich einen Vertrag als beratender Facharzt des Wiener Hauptgesundheitsamts erhielt. In dieser Funktion war er 1942 in die Selektion von Euthanasieopfern aus der Nervenheilanstalt Gugging (Klosterneuburg) involviert, wie Czech nachweist.

Experte im Dienst der Euthanasie

Asperger gehörte einer siebenköpfigen Kommission an, die 200 behinderte Kinder nach ihrer "Bildungsfähigkeit" kategorisieren sollte, um über ihr Schicksal entscheiden zu können. 35 Kinder wurden als "aussichtslose Fälle" eingestuft und in der Folge auf den Spiegelgrund überstellt, alle starben dort. "Es gibt keine Grundlage, ihn deshalb des 35-fachen Mordes zu bezichtigen, bis zur Ermordung dieser Kinder waren noch mehrere Schritte nötig", sagt Czech. "Aber er war Teil der Legitimationsmaschine und hat als Experte die Einteilung in 'Brauchbarkeitsstufen' mitgetragen."

Wäre es möglich, dass der Arzt nicht wusste, was mit den Kindern geschehen würde? Wohl kaum: Asperger war ein bestens vernetzter medizinischer Insider, der enge Verbindungen zum ärztlichen Direktor der Anstalt am Spiegelgrund unterhielt: Erwin Jekelius war eine zentrale Figur der Euthanasieverbrechen in Österreich. Zudem war selbst unter der Wiener Bevölkerung bekannt, was dort vor sich ging. Offenbar war auch der überforderten Mutter von Herta S. klar, dass sie ihr Kind dem Tod auslieferte – sie selbst gab es mit der Bemerkung ab, es wäre vielleicht besser, wenn das Mädchen sterben würde. Czech: "Natürlich ist denkbar, dass Asperger die Realität einfach ausgeblendet hat, aber das ändert nichts an seiner Verantwortung."

Nahtloser Übergang

Nach 1945 setzte Asperger seine Arbeit an der Kinderklinik der Universität Wien fort. Von 1957 bis 1962 leitete er die Innsbrucker Kinderklinik, 1962 wurde er Professor für Pädiatrie und Leiter der Universitäts-Kinderklinik in Wien, ehe er 1977 emeritierte. Asperger starb 1980 in Wien, internationale Aufmerksamkeit erfuhr seine Arbeit erst Ende der 1980er-Jahre.

Das Gehirn von Herta S. wurde im Jahr 2002, mehr als sechs Jahrzehnte nach ihrem Tod, bestattet: Es war zusammen mit hunderten Körperteilen ermordeter Kinder am Spiegelgrund konserviert und "zu Forschungszwecken" aufgehoben worden. (David Rennert, 19.4.2018)