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Alles wahr, aber dann doch nicht ganz ...

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Der US-Autor Michael Chabon hat seine Freude am Spekulativen.

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Was wahr ist und was erlogen, für Michael Chabons Moonglow ist diese Frage im Grunde irrelevant. "Roman" steht auf dem Buchdeckel, doch die Figur, an die er so lebendig erinnert, nennt der gleichnamige Erzähler seinen Großvater. Der US-Schriftsteller korrigiert das verwirrenderweise in Interviews: Vorbild sei sein Großonkel gewesen, der ihm am Sterbebett Anekdoten über sein Leben mitgab. Gemeinsam mit dem Auftrag, die Episoden zu ordnen und mit "ausgefallenen Metaphern" anzureichern. Ganz ähnlich, wie es im Buch nun der Großvater verlangt.

Wer sich Moonglow als Romanexperiment vorstellt, in dem Imaginiertes und Erlebtes verschwimmen, liegt jedoch falsch. Michael Chabon ist nicht an postmodernen Metafiktionen interessiert, er steht stärker in der Tradition satirischer Erzähler – er liebt es, Abenteuerliches, Fantastisches einzustreuen, ohne den Boden der harten Tatsachen zu verlassen. So behält auch die Erinnerungsform in Moonglow etwas Spekulatives, keck Übertriebenes und wirkt wie eine veredelte Spielart von Groschenliteratur. Und das, obwohl ein Vertreter der "Greatest Generation", der gefeierten Helden des Zweiten Weltkriegs, den Maßstab der Geschichten vorgibt.

Pferde und Raketen sind wiederkehrende Motive des Buches. Die Pferde tauchen gehäutet in den Wahnvorstellungen der Großmutter auf. Die Flugkörper, die schon in Thomas Pynchons Die Enden der Parabel eine wichtige Rolle spielten, verbinden die Gräuel des Krieges mit dem Aufbruchsfieber der folgenden Jahrzehnte. Im von den Sternen, der Astronomie begeisterten Großvater haben sie anfangs einen glühenden Verfechter. Allerdings trägt die Rakete Fortschrittsglaube und Ernüchterung gleichermaßen in sich.

Als junger Soldat wird der Großvater nach Nazideutschland geschickt, um die berühmten V2-Raketen (und deren Miterfinder Wernher von Braun) aufzuspüren. Dabei entdeckt er, mit welcher Schuld ihre Konstruktion behaftet ist. Ein Schock, der ihn prägen wird: Verrat an der Wissenschaft, Verrat an den Träumen, wofür die Rakete auf Erden diente. Die Rehabilitierung von Wernher von Braun durch die Amerikaner lastet so schwer auf ihm, dass er bei der Mondlandung sogar das Zuschauen verweigert. Privat bastelt er weiter Modelle für Mondbesiedelungen – aber nur für den engsten Kreis.

Familiengeschichte und Weltgeschichte bleiben in Moonglow eng aufeinander bezogen. Chabon will hinter die heroischen Mythen dieser verklärten Kriegsgeneration blicken, über die Traumata und Enttäuschungen schreiben, die man lieber verschwiegen hat. Das Leben des 1917 geborenen Großvaters wird allerdings nicht chronologisch aufbereitet. Chabon springt durch die Zeiten und schält immer wieder signfikante Erlebnisse heraus. Dialoge zwischen dem Erzähler, dessen Mutter und dem Großvater selbst bilden die Rahmenstruktur.

Beim Glück zupacken

Neben den turbulenten beruflichen Wegen des Großvaters, die ihn zwischenzeitlich sogar ins Gefängnis führen, bildet die Beziehung zu seiner Frau, einer aus Frankreich emigrierten Jüdin, die Hauptarterie des Romans. Wie Chabon mit ihren Shoah-Erlebnissen umgeht, hat für das Buch exemplarischen Charakter: Er spart zwar nicht aus, mit welchen Dämonen sie ringt, viel lieber will er der Großmutter jedoch das Recht gewähren, beim Glück zuzupacken. Die erste Begegnung des Ehepaars beschreibt er beschwingt wie eine Szene aus einer Romantic Comedy – mit scharfgespitzten Dialogen.

Der Wendigkeit von Chabons Prosa, seiner nie ermüdenden Geistesgegenwart verdankt der Roman den Esprit. Der Erzähler schreitet durch das Leben seines Großvaters wie durch Installationen, die er originell ausleuchtet. In seinen früheren Romanen, etwa in Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier und Clay, hat sich der populärkulturell bewanderte US-Autor an Comic-Welten ausgerichtet. Nun wird die (Fake-)Biografie selbst zum wilden Parcours, sei es, dass der Großvater im Krieg einen Nazischützen erschießt, boshafte Reptilien in der Nachbarschaft jagt, im Gefängnis den Sohn des Direktors mit Geschenken beglückt – erneut: Raketen! – oder seine wieder einmal entwischte Frau zu Halloween unter Geistern sucht.

Chabons burleske Fabulierkunst hebt die Geschichte seiner Großeltern in luftige Höhen. Schon der Einstieg, bei dem der Großvater beinahe seinen Vorgesetzten erwürgt, hat den Überschwang einer Episode aus einem Coen-Brüder-Film. Manche Passagen und Sprachbilder wirken aber überzogen. Was abgeht, ist ein Feingefühl für jene Momente im Leben der Großeltern, in denen sich der Schmerz verdichtet. Da wirkt Chabons Erzählhaltung plötzlich unsicher – und zu stark darauf bedacht, dem Leser die Erschütterungen zu ersparen. (Dominik Kamalzadeh, 22.4.2018)