Wer spricht auf der Bühne und für wen? Wer darf auf der Bühne repräsentieren und wer nicht? Diese Fragen muss sich das Theater zunehmend stellen. Die Debatte hat in den vergangenen Jahren durch das postmigrantische Theater Aufwind bekommen – auch durch Stimmen der Critical Whiteness ("des kritischen Weißseins"), die die Homogenität auf deutschsprachigen Sprechtheaterbühnen beanstanden.

In diesen Homogenitätsdiskurs gehört auch die Frage nach Schauspielern mit Behinderung. Überall wird Inklusion gepredigt, aber die guten Absichten greifen nicht wirklich. Einen Schauspieler mit Behinderung wie Peter Radtke hat der ehemalige FAZ-Kritiker Gerhard Stadelmaier als "unrezensierbar" kategorisiert.

Es gibt im deutschsprachigen Stadt- und Staatstheaterbetrieb nur ein einziges Haus, das körperlich behinderte Schauspieler im Ensemble hat: das Staatstheater Darmstadt (seit 2014). Sonst werden gehandicapte Schauspieler in den Off-Bereich gedrängt. Dorthin also, wo sie überregional wenig Aufmerksamkeit erlangen und wo bekanntlich weniger Geld fließt.

Seit 1993 gibt es das Theater Hora in Zürich, es spielen Darsteller mit Behinderung. Etwa in der Produktion "Human Resources" von 2015.
Foto: Sava Hlavacek

Im Abseits des Stadttheatersystems

Wer aber gilt in unserer Gesellschaft als "behindert"? Ist es der Starschauspieler Peter Dinklage aus der Kultserie Game of Thrones, nur weil er bloß 1,35 m groß ist und somit von der Norm abweicht? Oder sind es die Mitglieder der Theatergruppe Hora aus Zürich, Schauspieler mit Downsyndrom, die 2014 mit Disabled Theatre von Jerôme Bel als eine der besten zehn deutschsprachigen Aufführungen zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen wurden?

2005 haben sich die Horas mit dem Stück Der einzige Unterschied zwischen uns und Salvador Dalí ist, dass wir nicht Dalí sind eine coole Selbstbeschreibung gestattet. Sie spielt darauf an, dass die Schweizer Theatergruppe auf dieselbe Weise wie der spanische Surrealist um visionäre Bilder ringt, also um eine Ausweitung der Vorstellungskraft. Ähnlich wie es das Berliner Theater RambaZamba macht oder das australische Back to Back Theatre. Allesamt Gruppen, die längst bewiesen haben, dass sie etwas drauf haben, jedoch ausschließlich abseits des Stadttheatersystems, also indem sie sich außerhalb desselben selbst erfunden haben.

Die Gesellschaft ist darauf getrimmt, Behinderung als ausschließlich defizitär wahrzunehmen. Anders können es "Nichtbehinderte" in einer auf normativen Werten errichteten Welt nicht denken. Damit sind viele Fähigkeiten verschenkt.

Christoph Schlingensief vertraute auf die Subversion und Unberechenbarkeit von Schauspielern wie Achim von Paczensky (re.) oder Werner Brecht, etwa in der VOX-Produktion "Freakstars 3000" aus dem Jahr 2003.
Foto: VOX/Thomas Aurin

Spannung der Imperfektion

Christoph Schlingensief hat sie genützt: Die Subversion und Unberechenbarkeit von Schauspielern wie Kerstin Grassmann, Mario Garzaner oder Achim von Paczensky machte einen Teil seiner "offenen" Theatersprache aus, etwa in Arbeiten wie 100 Jahre CDU, Ausländer raus! oder Via Intolleranza II. Es gelang ihm, die vermeintlichen Regeln der Professionalität zu erschüttern und gängige Bilder von Behinderten zu unterwandern.

Schauspieler, die sich jenseits hegemonialer Normen ausdrücken, fügen einem Stoff eine andere Reflexionsebene hinzu oder vermögen womöglich die Aussagen zu verschieben. Sie bringen den Wert der Differenz ein oder kitschig formuliert: die Schönheit und Spannung der Imperfektion. Auch Pablo Picassos Werke könnte man mit einem Begriff von Tobin Siebers den "Disability Aesthetics" zurechnen.

In Österreich sind es ebenfalls "Inseln", auf denen sich integratives Theater abspielt, meist unbemerkt von der Kritik. Das Festival Sichtwechsel in Linz, das Theater Ecce in Salzburg, das Wiener Vorstadttheater oder die T21büne, im Tanzbereich sind es die Dance-Company Ich bin O. K. oder die Idance Company. Seit 18 Jahren gibt es auch das Theater Delphin, gegründet von Gabriele Weber und Georg Wagner. Größter Fördergeber ist Licht ins Dunkel, das sagt einiges. Delphin-Schauspieler Roman Klein konnte seinen Lehrer damals nur schwer davon überzeugen, dass er diesen Beruf schaffen kann. Eine seiner Kolleginnen wurde wegen ihrer Behinderung aber erst gar nicht zur Aufnahmeprüfung an eine private Schauspielschule in Wien zugelassen.

Das Ensemble des Theater Delphin gibt in einem gleichnamigen Stück die Familie "Biedermann".
Foto: Sonja Bachmayer

"Wir werden schnell unterschätzt"

Verweigern sich Ausbildungsstätten, fehlen Absolventen. Deshalb gab es zum Beispiel am Burgtheater, wie dem STANDARD mitgeteilt wurde, bisher auch weder Anfragen noch Bedarf. Mit einer Ausbildung wäre der Bezeichnung "unrezensierbar" der Wind aus den Segeln genommen. "Man traut Menschen mit Behinderung nichts zu und will sie deshalb auch nicht auf einer Bühne sehen, das ist ein Fakt", sagt Georg Wagner, der mit dem Theater Delphin derzeit die Premiere von Burg aus Glas vorbereitet. "Wir werden schnell unterschätzt."

2014 wurde Julia Häusermann als erster Schauspielerin mit Downsyndrom der renommierte Alfred-Kerr-Darstellerpreis verliehen: ein Meilenstein in der Geschichte des (integrativen) Theaters. Doch im Theater-Mainstream sind Schauspieler mit Behinderung deshalb noch lange nicht angekommen. Der Stadttheaterbetrieb ist auf weiß, "normalgesund" und akzentfrei programmiert. Viele Häuser steuern – zumindest an den Rändern ihres Betriebs und Spielplans – dagegen. Dazu zählt die Schiene Offene Burg am Burgtheater. Dennoch bleiben Schauspieler mit Behinderung strukturell vom institutionalisierten Theaterbetrieb ausgeschlossen.

Inklusion funktioniert dort am besten, wo projektweise zusammengearbeitet wird. So hat Milo Rau im Vorjahr mit der Gruppe Hora Pasolinis Faschismus-Dystopie Die 120 Tage von Sodom für das Schauspielhaus Zürich inszeniert. Die Hora-Mitglieder haben sich mittlerweile – dank ihrer hauseigenen Ausbildungsstätte – einen nicht mehr in Zweifel gezogenen Status als professionelles Ensemble gesichert. Julia Häusermann trifft auf Robert Hunger-Bühler vom Schauspielhaus Zürich. So what! (Margarete Affenzeller, 24.4.2018)