Der Donaukanal in Wien gehörte bis vor kurzem zu den Geheimtipps der österreichischen Hauptstadt. Er ist ein Ort, an den sich immer noch keine Touristen verirren, der aber neuerdings Gefahr läuft, sich in eine Art Amüsiermeile zu verwandeln. Aber das äußere Stück, von der Schwedenbrücke stadtauswärts, hat immer noch den Charme des Unkommerziellen. Eine Flusslandschaft mitten in der Stadt.

Man kann dort verweilen, ohne Geld ausgeben zu müssen. Viele Menschen mit und ohne Migrationshintergrund tun das auch. Man kann Liebespaare sehen, Jogger, alte Eheleute, die Hand in Hand spazieren gehen, fröhlich quatschende Jugendliche und in sich gekehrte Einzelgänger, die einfach auf der Kaimauer sitzen, die Beine baumeln lassen und sich die Frühlingssonne auf die winterblasse Haut scheinen lassen. Es ist still hier, kein Radio plärrt, und kein Lautsprecher stört.

Die Kaimauern am Kanal sind auch das Paradies der Straßenkünstler. In letzter Zeit werden die Wandgemälde immer abstrakter, von amerikanischer Werbegrafik geprägt. Aber mitunter sieht man noch herrlich naive Straßenszenen mit Autos, Menschen, Tieren, Monstren. Sie werden immer wieder übermalt und durch neue Kreationen ersetzt. Von einem großen Schwarz-Weiß-Porträt ist nur noch die Nase übrig und die Aufschrift "I can already smell your unhappiness".

Überhaupt, die Aufschriften! Es gibt sehr persönliche: "Tina, du bist die einzige". Politische: "Kosovo is Serbia". "Kackscheisse! Nazi haun". Mysteriöse: "Denk nicht mal dran". "15 Uhr 20". Die allertraurigste, die lange auf einem Brückenpfeiler zu lesen war, hat vor einiger Zeit jemand überpinselt: "Warum lebe ich und sterbe ich nicht einfach weg".

Vieles ist mysteriös am Donaukanal. Zum Beispiel das Verhalten der Möwen, die im Winter den Kanal zu ihrem Lieblingsort erkoren haben. Sie haben einen speziellen Platz auf der Kaimauer, auf den sie Jahr für Jahr zuverlässig zurückkehren. Dort und nirgends anders lassen sie sich nieder, fein säuberlich wie die Soldaten nebeneinander aufgereiht. Urplötzlich, ohne ersichtlichen Grund, fliegt einer der Vögel weg, und alle anderen folgen ihm und erheben sich mit ihm in die Lüfte. Warum? Niemand weiß es.

Der Wiener Donaukanal ist einer der letzten Orte der Freiheit. Man muss hoffen, dass er es noch eine Zeitlang bleibt und die Kette der Lokale nicht auch noch das letzte unbebaute Stück Promenade auffrisst. Damit es noch irgendwo Bänke gibt, wo jemand stundenlang sitzen kann, ohne dass ein Kellner ihn nach seinen Konsumationswünschen fragt, und nichts anderes tun, als in die Luft zu schauen und seinen Gedanken nachzuhängen. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 25.4.2018)