Worin genau besteht im 21. Jahrhundert die Relevanz von Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen? In Zeiten von Ich-AGs, Start-ups und Einpersonenunternehmen verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in vielen Fällen. Diesen Wandel symbolisiert, dass der frühere sozialdemokratische Kanzler und SPÖ-Chef Christian Kern in seiner Amtszeit die Förderung der Start-up-Szene zu seinem politischen Schwerpunkt machte. Die Stärkung kreativer Unternehmer mag wirtschaftlich sinnvoll sein. Mit den Fundamenten, auf denen die Sozialdemokratie gebaut ist, hat das wenig zu tun.

Lässt sich unter den neuen Bedingungen Solidarität organisieren? Adele Siegl und Robert Walasinski haben auf diese Frage eine klare Antwort: Ja, es geht.

Die Kosten der Expansion

Siegl und Walasinski, sie Ende 20, er Anfang 30, beide sportlich, sitzen in einem Wiener Kaffeehaus. Die beiden arbeiten für den Essenslieferdienst Foodora und haben in der Branche etwas Ungewöhnliches getan: Sie gründeten einen Betriebsrat.

Der Start-up Foodora expandiert seit seiner Gründung 2015. Die Fahrradzusteller mit ihren pinken Rucksäcken liefern Burger und Sushi in 60 Städten aus. Bestellt wird online und via App. Das Wachstum war begleitet von Geschichten über miserable Arbeitsbedingungen. Auch in Wien, wo um die 350 Boten für Foodora unterwegs sind, gab und gibt es Probleme, erzählen Siegl und Walasinksi.

Das Unternehmen baute also seine Mannschaft um. Statt angestellter Mitarbeiter setzt Foodora zunehmend auf freie Dienstnehmer. Diese haben keinen Urlaubsanspruch und kein Recht auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Auch bei angestellten Radlern lief nicht alles rund: Die Fahrradboten haben bis heute keinen Kollektivvertrag, in Verträgen fehlt das 13. und 14. Monatsgehalt.

Geheimmission Betriebsrat

Als Siegl und Walasinksi sich im Herbst 2016 entschlossen haben, einen Betriebsrat zu gründen, wurde die Aktion geheim geplant. In einer Whatsapp-Gruppe sprachen sich die Kollegen ab.

Protestaktion von Foodora-Mitarbeitern in Berlin.
Foto: AFP

Die damalige Foodora-Geschäftsführung wurde erst informiert, als die Vorbereitungen fertig waren. "Wir schließen", soll die erste Reaktion gewesen sein. Ein Betriebsrat in einem Start-up? Das verlangsame nur die Prozesse.

Siegl und Walasinski haben einige Lehren aus der Aktion mitgenommen. Die Belegschaft bei Foodora ist bunt: Es gibt Studenten, Schulabbrecher, Akademiker, Migranten. Das Wissen um eigene Rechte ist unterschiedlich. Trotzdem ließ sich die Belegschaft dafür gewinnen mitzumachen. Der Betriebsrat habe sich inzwischen als Ansprechpartner der Mitarbeiter etabliert, so Siegl. Die gemeinsamen Interessen verbinden.

Neuland war die Aktion auch für die zuständige Gewerkschaft Vida. Diese beriet die angehenden Betriebsräte juristisch. Siegl: "Dort wurde gejubelt und gefeiert, als wir gekommen sind. Die Gewerkschaft wusste selbst nicht, wie man uns organisieren soll."

Kampf um die Räume

Arbeitnehmer mit unterschiedlichen Interessen in einem Betrieb zu organisieren war schon immer eine große Herausforderung von Gewerkschaften. Neu ist allerdings, dass der Kampf um Räume anders geführt werden muss. Im 19. Jahrhundert haben sich die großen Maschinen und Industriebetriebe etabliert. Eine Folge war, dass Arbeitnehmer nicht mehr versprengt in Handwerksbetrieben tätig waren.

Die Arbeiter trafen sich in der Fabrik, kamen in Kontakt. Das ist die Grundvoraussetzung, um sich abzusprechen. Heute ist das schwieriger. So gibt es weniger Großbetriebe, dafür mehr Kleine. In Österreich hat Teilzeitarbeit zugenommen. Bei Frauen ist die Teilzeitquote von 31 auf 48 Prozent in den vergangenen 20 Jahren gestiegen. Wer nicht 40, sondern nur 20 Stunden im Betrieb verbringt, ist weniger an das Unternehmen gebunden – und im Regelfall weniger an die Kollegen.

Unbekannte Kollegen

Eine weitere Herausforderung sind neue Formen der Arbeitsorganisation. Zunehmend verbreitet ist die Arbeit über digitale Plattformen wie bei Uber oder Foodora. Mitarbeiter kennen sich dabei oft gar nicht, es gibt keine Büroräume. Bei Foodora war der letzte Funke, der dazu führte, dass sich die Arbeitnehmer zusammentaten, die Schließung der Garage in Wien aus Kostengründen. In der Garage hatten Mitarbeiter ihre Fahrräder repariert. Sie diente aber vor allem als sozialer Treff.

Aus dem Archiv: ein Protestmarsch des ÖGB in Wien. Die Gewerkschaft hat 400.000 Mitglieder seit 1990 verloren.
Foto: Fischer

Die Schwierigkeiten lassen sich an Zahlen ablesen. Heute gibt es 1,2 Millionen Gewerkschaftsmitglieder in Österreich. Zuletzt war die Entwicklung stabil, aber das sind um 400.000 weniger als 1990.

Auch Chefs willkommen

Versprengte und atypisch beschäftigte Mitarbeiter zu gewinnen ist eine der Hauptaufgaben von Veronika Bohrn Mena. Sie arbeitet für die Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA). Die GPA experimentiert seit einigen Jahren mit Interessengemeinschaften (IGs). Diese IGs durchbrechen die starre Organisationsstruktur bei den Genossen. So gibt es in den IGs keine Einteilung der Arbeitnehmer nach Branchen, und Interessenten sind willkommen, die in den Augen der Genossen lange Zeit keine Arbeitnehmer waren.

Die IG-Flex richtet sich unter anderem an Einpersonenunternehmer und Selbstständige. Die IG Professional wendet sich an leitende Angestellte, Geschäftsführer. Die IGs sollen einen "sanften Einstieg" in die Gewerkschaft ermöglichen, sagt Bohrn Mena. So kann man bei den IGs Mitglied werden, Beratungen in Anspruch nehmen, ohne bei der Gewerkschaft dabei sein zu müssen. Rund 40.000 Mitglieder haben die IGs.

Einfallstor für Interessen

Bohrn Mena sieht in dieser neuen Struktur nicht nur eine Möglichkeit, um Scheinselbstständigen zu helfen und freie Dienstnehmer zu beraten. Die IGs sind für sie ein Vehikel, um die Interessenbildung in der Gewerkschaft zu beeinflussen. Der ÖGB sieht sich bis heute im Kern als Vertreter der unselbstständig Beschäftigen.

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Wie können junge Menschen für Gewerkschaften interessiert werden? Eine Herausforderung.
Foto: Getty

Bohrn Mena plädiert dafür, den Arbeitnehmerbegriff zu erweitern: auf alle, die in einem Abhängigkeitsverhältnis arbeiten. Das kann der selbstständige Werbetexter, der bloß ein, zwei große Auftraggeber hat, ebenso sein wie die 24-Stunden-Pflegerin.

Neben IGs, setzt die Gewerkschaft auf Web-Angebote, bei denen Beschäftigte ihren Job-Status überprüfen lassen können. Daneben brauche es neue, kreative Ideen, sagt Bohrn Mena. Das könne auch heißen, Wasserflaschen mit GPA-Kärtchen an Radzusteller zu verteilen.

Der Kulturwandel

Dabei trifft Gewerkschaften eine weitere Herausforderung, sagt der Wiener Politologe Georg Lauss, der als politischer Bildner arbeitet. "Es gibt heute weniger Bewusstsein in der Gesellschaft für Arbeitnehmersolidarität. Junge Menschen sind nicht mehr darauf vorbereitet, in größere Verbände einzutreten. Sie sind individualistischer."

Gewerkschaften tun sich mit diesem Kulturwandel leichter als Parteien: Sie können Mitglieder am Arbeitsplatz abholen, wo es ums Geld geht, wo also Vorteile der Organisation schneller spürbar werden. Der Kulturwandel hat einen Vorteil, sagt Lauss. "Die Gewerkschaften müssen mehr Überzeugungsarbeit leisten. Das macht sie im Idealfall beweglicher." (András Szigetvari, 28.4.2018)