Unlängst auf einer Fahrt übers Land fiel er auf, dieser Rhythmus im Stundentakt. Während draußen die frisch grünen Felder vorbeizogen und zum Reden über die Schönheit der Natur anregten, war da stets dieser Griff in die Handtasche. Es ging um Lipgloss und die Vermeidung des Trockenheitsgefühls. "Ich habe alle ausprobiert, dieser ist der Beste", sagt sie, schraubt ihn auf und wischte sich intensiv, ja geradezu meditativ mit dem kleinen Schwämmchen am Applikator eine Portion auf die Lippen.

Dabei schloss sie die Augen, öffnete sie wieder und verteilte die Pomade mit dem charakteristischen Zusammenpressen der Lippen gleichmäßig. Mit einem sanften Auf- und Zuklappen ging das Ritual zu Ende. Sie brauche alle zwei Wochen einen neuen Gloss, sagt sie und gestand, dass sie süchtig danach ist.

Lippenpomaden, wie Glosses früher genannt wurden, stehen derzeit hoch im Kurs, "weil sie in dezenten Farben optisch Unebenheiten ausgleichen", sagt Make-up-Artistin Marie-Theres Weinmann, die sie für den "gepflegten Tageslook" einsetzt.

In dezenten Farben gleichen Glosses optisch Unebenheiten aus.
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Agnetha und Anni-Frid

Die Anfänge dieses Schminkutensils ortet sie in den 1980er-Jahren, denkt an Agnetha und Anni-Frid der Pop-Gruppe Abba und ihren Discostil, der schillernd, silbrig glänzend und keineswegs dezent war.

Der Nasslook für Lippen steht mittlerweile aber für "sexy" im weitesten Sinne, zumindest suggerieren es die Farbbezeichnungen der Lipglosses, die derzeit die Schminkwilligen überfluten: Be Brilliant, Big Bang, Not Afraid, Obsessed, Energy Shot, Goldmine, Airkiss lesen sich wie Versprechungen für Konsumentinnen.

Interessanterweise, so Weinmann, sei Lipgloss auch sehr beliebt bei Frauen, die sich ihre Lippen haben aufspritzen lassen. Die Glanzpartikel vertuschen optische Unebenheiten, die sich bei solchen Prozeduren immer wieder ergeben. Und wenn das Ziel von plastisch-ästhetischen Eingriffen volle Lippen sind, ist Gloss eine zusätzliche Maßnahme.

"Unbedingt einen Lippenkonturenstift in derselben Farbe verwenden, damit nichts verrinnt", rät Weinmann, denn dass Lipgloss im Vergleich zu normalen Lippenstiften weniger Farbpigmente enthält, stimme schon lange nicht mehr. In manchen Lipgloss-Produkten wie etwa in der Ecstasy-Shine-Linie von Giorgio Armani sei sogar extrem viel Pigment enthalten, und auch der Vorwurf, dass Lippenlack, wie Lipgloss gerne auch genannt wird, klebe, lasse sich nicht mehr generalisieren, so die Make-up-Artistin.

Nach wie vor schwierig sei aber, Lipgloss bei windigem Wetter mit offenen, langen Haaren zu tragen, lacht sie, denn egal, ob Lipglosses auf Öl-, Wachs- oder Polymerbasis sind, "es sieht nicht gut aus, wenn die Haare am Mund kleben bleiben".

Geschmacksfrage

Der Lipgloss des Vertrauens meiner Gloss-süchtigen Freundin ist übrigens von Aveda. Er schmeckt nach Pfefferminze und verströmt eine frische Brise. "Mein Gloss ersetzt den Kaugummi", sagt sie, und, nein, Geschmacksrichtungen wie Mango, Vanille oder Pfirsich kommen für sie nicht infrage. Die Verbindung von Glanz und Frische hat auch Urban Decay entdeckt: Die neuen Hi-Fi-Glosses schmecken ebenfalls köstlich nach süßer Minze.

Metallischer Lippenglanz schließlich bleibt den Mutigeren vorbehalten, etwa beim Ausgehen. Smashbox hat Nuancen von Gold bis Kupfer im Programm. Wie das aussieht, kann man sich bei Popikonen wie Rihanna oder Cardi B abschauen. Diese Looks sind weniger fürs Büro geeignet. Lipgloss hat ein breites Publikum. Aber aufpassen: Sie haben Suchtpotenzial, mitunter kann das Auftragen im Stundentakt die Folge sein. (Karin Pollack, RONDO, 10.7.2018)

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Chanel Rouge Coco Gloss Rose Naif (32 Euro).

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Dior Addict Lacquer Plump Lovely-D (33 Euro).

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Urban Decay Hi-Fi Shine Gloss Beso (16 Euro).

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Smashbox Be Legendary Mauve Squad (23,99 Euro).

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Clinique Pop Splash Airkiss (23,50 Euro).

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Lancôme L'Absolu Lacquer Be Brilliant (31 Euro).

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Tom Ford Lip Lacquer Extreme Pink (54 Euro).

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Givenchy Gloss Interdit (32,99 Euro bei Marionnaud).