Hans Magnus Enzensberger: Lyriker, Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber.

Foto: Jürgen Bauer / Suhrkamp

Selten genug sind Schriftsteller wirklich gute Leser. Stil, Sprache, Eigenheiten, Vorlieben, unterschiedliche Herangehensweise, gänzlich andere Charakterzeichnung verhindern allzu oft eine ausgewogene Darstellung. Auch wenn kluge literarische Essays von Ulrike Draesner oder Anna Mitgutsch sogleich als Gegenargument ins Feld geführt werden können. Auch wenn in Großbritannien und in den USA eine nicht so kleine Zahl namhafter Autorinnen und Autoren auch namhafte Rezensenten waren.

Es gibt ja Bücher über Bücher, bei denen die Begeisterung, der Enthusiasmus und, auch das, die Weisheit überspringen, etwa der Essayband Browsings des Washington Post-Kolumnisten Michael Dirda, eines der leidenschaftlichsten Leser der Gegenwart. Und dann gibt es feine Ideen für ein Literaturpanorama. Etwa das 20. Jahrhundert im Leben, Schreiben und politisch-sozialen Verhalten, in den Wirkungen, Auswirkungen und Reaktionen von Dichtern und Poetinnen sich spiegeln zu lassen.

Diese Idee hat der inzwischen 89-jährige Hans Magnus Enzensberger sich für sein neues Buch Überlebenskünstler als Ausgangspunkt gewählt. Der Lyriker, Essayist, Übersetzer, Zeitschriftengründer und langjährige Programmgestalter der Anderen Bibliothek legt 99 literarische Vignetten vor, mal zwei Seiten, höchstens vier Seiten kurz, aufsteigend geordnet nach dem Geburtsjahr. Diese Revue reicht von Knut Hamsun, Gerhart Hauptmann und Gabriele D'Annunzio über Annette Kolb, Colette und Gertrude Stein bis hin zu Franz Werfel, Boris Pasternak, Johannes R. Becher, Wassili Grossman, Irmgard Keun, Ilse Aichinger, Harry Mulisch und dem Finnen Veijo Meri.

Natürlich ist Enzensberger klar, dass seine Auswahl eine subjektive ist, eine antilexikalische. Das versucht er in seiner Vorbemerkung zu entkräften. Aber doch stellen sich Fragen: wieso Gombrowicz und nicht sein Landsmann Aleksander Wat, Autor von Jenseits von Lüge und Wahrheit? Warum Alberto Moravia und nicht Primo Levi? Wieso zum Ausklang Ismail Kadare und nicht der Litauer Tomas Venclova?

Dichter begegnet Dichtern

In nicht wenigen Fällen ist die Auswahl bedingt durch Begegnungen und persönliche Treffen. Besonders schön, ja das mit Abstand berührendste Porträt ist jenes von Nelly Sachs, das viel länger hätte ausfallen können. Auch inzwischen zu Unrecht auf dem Buchmarkt Halb- oder Ganzvergessene wie Josef Skvorecký, Harry Mulisch oder Jehuda Amichai kommen zu Ehren.

Andererseits fällt des Öfteren etwas unangenehm auf, dass Enzensberger kaum tiefergehend recherchierte; so lässt er bei Bulgakow die Neuübersetzung Alexander Nitzbergs unerwähnt. Tatsächlich bedankt er sich am Ende bei einer weltbekannten, nicht ganz zuverlässigen Online-Enzyklopädie. Wirkliche Entdeckungen sind kaum zu machen, Julian Tuwim höchstens oder Konstantin Paustowskij. Vieles andere ist bekannt, André Bretons Herrischkeit, Ilja Ehrenburgs osmotische Geschmeidigkeit, Falladas Drogensucht. Anderes ist fast eitel. Im Falle Juan Carlos Onettis extra die Herausgeber der deutschen Übersetzungsedition zu loben ist nicht nur wohlfeil, sondern mehr als nur etwas ambivalent. Erscheint diese doch in einem Verlag namens Suhrkamp. Der seit sechs Jahrzehnten Enzensbergers Bücher herausbringt.

Weniger wäre mehr

Wieso nur hat er sich ausgerechnet auf die Zahl 99 festgelegt? Hätte ihm sein Lektor nicht zu 77 raten können? Man findet Extremfälle wie Rudolf Borchardt, Elias Canetti und Camilo José Cela, die Enzensberger charakterlich abstoßend findet, Henry Miller, den er als dumm und unbedeutend abkanzelt, Ezra Pound, zu dessen Langdichtung er keinen Zugang gefunden hat, Heimito von Doderer, dessen Romane sich Enzensberger nie erschlossen haben, Ernst Jünger, der ihm gipsern vorkommt, oder Manès Sperber, en passant als medioker eingestuft. Vollkommen rätselhaft muten die Einträge über Eric Ambler – hat er überhaupt einen der Thriller des Engländers gelesen? – wie über Georg K. Glaser an, bei dem das Klappern biografischer Daten einzig die kleine Anmerkung durchbricht, er, Enzensberger, habe 1953 ein Exemplar der ersten, stark tippfehlerbehafteten Auflage von Glasers Geheimnis und Gewalt gekauft. Schön für ihn.

Erstaunlich ist, dass Günter Eich, den er bei Treffen der Gruppe 47 erlebte, so blass bleibt. Auch jene, mit denen er korrespondierte und die er näher kannte wie Wolfgang Hildesheimer oder Peter Weiss werden eher belächelt, waren ihre Wege nicht so springinsfeldirrlichternd, so verspielt und letztlich kommerziell wie sein eigener. Sondern endeten wie bei Hildesheimer in Melancholie, Verzweiflung, Verstummen oder politisch radikal sklerotisch wie der von Weiss. Mit einer Reduktion wäre die Zahl lustlos exekutierter Beiträge, die als Pflicht anmuten, kleiner. Dann hätte man einen entdeckungsreicheren, gewichtigeren Band, dann würden auch nicht derart oft innerhalb eines Absatzes Zeitebenen nachlässig übereinanderstolpern, dann gäbe es mehr Sprach- und Erkenntnislichter. (Alexander Kluy, 30.4.2018)