STANDARD: Seit einigen Jahren werden in Deutschland wieder vermehrt NS-Täter strafrechtlich verfolgt. In Österreich ist das nicht der Fall. Warum?

Zuroff: Es ist sinnlos, das überhaupt zu versuchen. Österreich ist der Worst Case der NS-Verfolgung. Naziverbrecher werden hier einfach nicht verfolgt.

STANDARD: Wo sehen Sie das Problem, in der Anwendung des Gesetzes oder im Gesetz selbst?

Zuroff: In beidem. Österreich hat alles versucht, um die strafrechtliche Verfolgung der Nazitäter zu verhindern. Im Fall Erna Wallisch (KZ-Wächterin im Vernichtungslager Majdanek, Anm.) sagte mir die damalige Justizministerin Karin Gastinger: Sie könne Wallisch nicht verfolgen, weil das, was sie dort gemacht habe, nur "passive Komplizenschaft" zum Genozid war. Wenn Sie Komplizin eines Völkermords sind, dann können Sie gar nicht passiv sein. Hat sie beim Fernsehen ganz nebenbei sieben Menschen ermordet oder was? Es ist absurd. Absolut idiotisch.

"Wir wollen Menschen zur Anklage bringen": Efraim Zuroff erklärt, warum die Verfolgung von NS-Verbrechern noch immer wichtig ist.
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STANDARD: Sie sind dann nach Polen gegangen, um weitere Beweise zu suchen.

Zuroff: Ja, es gab dort Zeugen, die bestätigten, dass Wallisch in Majdanek Menschen erschlagen hat. Denn es ist ja so: Wenn du jemanden recht höflich zum Vergasen in die Gaskammer bringst, kann dich in Österreich niemand anfassen. Wenn du aber, Gott behüte, auf dem Weg jemanden in den Arsch getreten hast, dann hast du ein Problem.

STANDARD: Gibt es heute noch Fälle in Österreich lebender NS-Täter, die verfolgt werden sollten?

Zuroff: Ja, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele – ich unternehme hier ja nichts mehr. Ich habe aber Vizekanzler Heinz-Christian Strache eine Nachricht geschickt: Wenn er so entschlossen ist, seine Neonazivergangenheit abzuschütteln, warum setzt er sich nicht einfach dafür ein, dass Österreich das deutsche Modell anwendet? Die Deutschen haben dafür nicht einmal ein Gesetz gebraucht. Die Staatsanwälte haben einfach im Rahmen des bestehenden Strafrechts anders argumentiert. Österreich könnte das genauso tun.

STANDARD: Inwiefern sehen Sie Ihre Rolle auf die strafrechtliche Verfolgung beschränkt, inwieweit geht es Ihnen um historische Aufarbeitung?

Zuroff: Wir wollen Menschen zur Anklage bringen. Und wenn das nicht gelingt, dann wollen wir sie zumindest der Öffentlichkeit aussetzen. Oft ist das sogar das Schmerzvollste für sie – weil ihre Familien meistens keine Ahnung haben, was sie getan haben.

STANDARD: Ihre Arbeit ist also mit dem Tod oder der erfolgreichen Auslieferung an die Justiz beendet.

Zuroff: Ja, ich kann für solche Fälle keine Zeit verschwenden, solange es noch andere Leute da draußen gibt, die zur Verantwortung gezogen werden müssen. Wir haben sehr begrenzte Ressourcen und müssen genau schauen, wie wir sie einsetzen.

STANDARD: Wenn Österreich der Worst Case ist, was ist der Best Case?

Zuroff: Seit ein paar Jahren ist es Deutschland. Hätten die schon vor 30 Jahren so gehandelt, wäre die Zahl der Anklagen gegen NS-Täter viel, viel höher gewesen. Jede Person, die im Vernichtungslager gedient hat, kann wegen Beihilfe zu Mord verfolgt werden. Allein im letzten Jahr sind 18 Anklagen erhoben worden.

STANDARD: In welchem Stadium befinden sich diese 18 Verfahren jetzt?

Zuroff: Die Akten sind zu den jeweiligen lokalen Staatsanwaltschaften an den Wohnorten der Angeklagten übermittelt worden. Interessant ist, dass es hier nicht nur um reine Vernichtungslager geht. Das ist eine neue Stufe, ohne Zweifel. Es ist im Grunde eine verspätete Korrektur. Man könnte sagen, diese Täter hatten das Pech, lange zu leben. Die Tatsache, dass es weit schlimmere Verbrecher gab, die nicht bekamen, was sie verdienten, ist extrem unglücklich – aber das bedeutet nicht, dass wir alle anderen Täter ignorieren sollten.

"Wir wollen Menschen zur Anklage bringen. Und wenn das nicht gelingt, dann wollen wir sie zumindest der Öffentlichkeit aussetzen", sagt Zuroff.
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STANDARD: In ganz Europa nimmt der Antisemitismus zu. Wie nehmen Sie das wahr?

Zuroff: Wir haben die einzig- artige Situation in der jüdischen Geschichte, dass wir Länder in Osteuropa haben, die Israel lieben und Juden hassen. Das hatten wir noch nie. Traditionell hasste man Juden, also hasste man auch Israel. Heute pflegen osteuropäische Staaten gute Beziehungen mit Israel, in der Sicherheitspolitik, Cybersecurity und so weiter – aber die Juden im eigenen Land hassen sie. Ich verbringe viel Zeit damit, gegen diese Doppelmoral zu kämpfen.

STANDARD: Auch in Israel?

Zuroff: Ja, auch hier. In Israel hat das neue polnische Holocaust-Gesetz einen riesigen Sturm der Empörung ausgelöst. Netanjahu sagte: Israel wird nicht zulassen, dass der Holocaust verzerrt dargestellt wird. Ich bin fast vom Stuhl gefallen! In den letzten 25 Jahren hat seine Partei es ignoriert – und hat mir vorgeworfen, durch meine Arbeit, angeblich die bilatera- len Beziehungen mit Litauen zu belasten.

STANDARD: Nach dem letzten Regierungswechsel in Österreich hat Israel deutlich weniger scharf reagiert als im Jahr 2000. Wie erklären Sie sich das?

Zuroff: Strache sagt, die Botschaft soll nach Jerusalem übersiedeln. Strache sagt, Israel hat ein Recht auf Judäa und Samaria. Das gefällt Leuten wie Yehuda Glick (konservativer Knesset-Abgeordneter, der Strache getroffen hat, Anm.). Für solche Leute ist die Zukunft von Judäa und Samaria viel wichtiger als die Vergangenheit der Shoah.

STANDARD: Gäbe es Gründe, sich stärker kritisch zu äußern, was Österreichs Umgang mit seiner NS-Vergangenheit betrifft?

Zuroff: Schauen Sie, was da in Bleiburg passiert (jährliches Rechtsextremen-Treffen Mitte Mai in Kärnten, Anm.). Da gab es ein extrem mörderisches Regime, und in Bleiburg treffen sich jedes Jahr jene Personen, die diesem Regime nachweinen – das ist absolut verrückt. Ante Pavelic war einer der übelsten Massenmörder der europäischen Geschichte, wie kann man ihn ehren? Warum ist so etwas in Österreich möglich? In Kroatien dürfen sie so etwas nicht machen. Und das ist gut so. Also warum erlaubt die österreichische Regierung das? Warum lässt die Kirche das zu?

STANDARD: In Österreich verweist man auf die Zuständigkeit der katholischen Kirche.

Zuroff: Das ist Bullshit. Das ist so sehr eine Kirchenangelegenheit, wie ich Oberrabbiner von Zululand bin. Man schaut absichtlich weg. Es ist absolut verrückt. Und es macht wütend.

STANDARD: Ist auch die österreichische Zivilbevölkerung zu indifferent, was solche Tendenzen betrifft?

Zuroff: Das liegt auf der Hand, ja. Sonst wäre so etwas nicht möglich.

STANDARD: Was erwarten Sie sich von der Politik in puncto Bleiburg-Treffen?

Zuroff: Das Parlament soll ein Gesetz verabschieden, das auch Ustascha-Symbole umfasst. Und alle Verherrlichungen von Faschismus verbieten. (Maria Sterkl, 3.5.2018)