Der Forderung nach höheren Standards wird oft mit dem Kostenargument gekontert. Dabei bedeutet barrierefrei bauen auch nachhaltig bauen, denn spätere Adaptierungen kosten ein Vielfaches.

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Menschen mit Behinderungen sind auf umfassende Barrierefreiheit angewiesen, um gleichberechtigt und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Barrierefreiheit ist dabei keine Good-Will-Aktion von Bauherren, sondern laut Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG) auch gesetzlich verankert. Dennoch: Durch die Novellierungen der österreichischen Bauordnungen, die zudem in Länderkompetenz liegen, wurden die Standards für barrierefreies Bauen immer weiter herabgesetzt. Nunmehr droht eine weitere Verschlechterung, die Behindertenorganisationen wie der ÖZIV, der Bundesverband für Menschen mit Behinderungen, naturgemäß nicht hinnehmen wollen. Dieser Userkommentar ist eine Bestandsaufnahme einer vertrackten Situation, die dazu führt, dass die Nivellierung nach unten auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen wird.

Uns erreichen immer wieder Anfragen wie folgende:

"Lieber ÖZIV! Mir wurde von der Behörde für die Renovierung einer Wohnung in meinem Haus vorgeschrieben, dass die Türen mindestens 80 Zentimeter breit sein müssen. Ich verstehe die Logik nicht: Für die Eingangstüre und andere Bereiche des Hauses wurde mir nichts Derartiges vorgeschrieben. Kann das denn sein?"

Ja, das kann sein!

"Lieber ÖZIV! Die niederösterreichische Bauordnung soll novelliert werden. Auch in der neuen Fassung sind etwa Hotels davon ausgenommen, barrierefrei gebaut werden zu müssen. Ich bin fassungslos! Immer wieder stehe ich selbst vor dem Problem, als Rollstuhlfahrerin keine passende Unterkunft zu finden. Und ich frage mich: Gilt die UN-Behindertenrechtskonvention eigentlich in Niederösterreich nicht? Wie kann es sein, dass der Tourismus in Österreich noch immer nicht das (wirtschaftliche) Potenzial an barrierefreiem Bauen erkennt? Kann das denn alles wahr sein?"

Ja, das kann sein!

"Lieber ÖZIV! Die österreichische Staatenprüfung steht unmittelbar bevor. Da ich die letzte Prüfung aufmerksam verfolgt habe, ist mir eine Empfehlung des UN-Komitees noch sehr gut in Erinnerung: Einheitliche Standards zu barrierefreiem Bauen seinen dringend notwendig. Nun habe ich die Presseaussendung des österreichischen Behindertenrates gelesen. Behindertenorganisationen seien bestürzt über die neuesten Entwicklungen bei der Ö-Norm B 1600 (Barrierefreiheit – Allgemeine Planungsgrundlagen). Was hat es damit auf sich?"

Bestürzende Entwicklungen?

Bauordnungen sind Ländersache. Das heißt, dass jedes Bundesland eigene Vorschriften darüber aufstellen darf, was wie zu bauen ist. Das betrifft auch Regelungen darüber, wann und wie barrierefrei zu bauen ist.

Mit der Gründung des Österreichischen Instituts für Bautechnik (OIB) im Jahr 1993 beschlossen alle Bundesländer gemeinsam – auf Basis einer 15a-Vereinbarung –, hier gemeinsame Wege zu gehen. Durch die sogenannten OIB-Richtlinien wollte man Vereinheitlichungen unter anderem bei baurechtlichen Vorschriften erreichen.

Rechtsunsicherheit auf allen Seiten

Mit der Neufassung der OIB-Richtlinie 4 (Nutzungssicherheit und Barrierefreiheit) 2015 wurde erstmals nicht mehr auf die Ö-Norm B 1600 (die die technischen Standards bei barrierefreiem Bauen und Planen widerspiegelt) verwiesen, sondern ein gänzlich neuer Weg beschritten, der das Wissen und die Erfahrungen des Normengremiums völlig außen vor ließ. Neben dem ÖZIV-Bundesverband versuchten zahlreiche Behindertenorganisationen diese bestürzende Entwicklung zu verhindern – leider ohne Erfolg. Auch trug die OIB-Richtlinie nicht zur Vereinheitlichung bei, da es den Bundesländern überlassen ist, die Richtlinie überhaupt in ihre Bauordnung zu übernehmen und damit Gesetz werden zu lassen. Weiterhin bestimmt auch das Land selbst, welche Gebäude überhaupt barrierefrei gebaut werden müssen.

In Niederösterreich sind etwa Hotels weiterhin nicht zwingend barrierefrei zu errichten! Das schafft auf allen Seiten Rechtsunsicherheit: Weiterhin sind Planer und Architekten damit konfrontiert, in jedem Bundesland andere Vorschriften einhalten zu müssen. Und außerdem gilt auf Bundesebene das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG): Die Zumutbarkeit (des Anbieters) vorausgesetzt, gibt es einen Anspruch auf Barrierefreiheit auch gegenüber privaten Anbietern von Dienstleistungen und Waren. Das bedeutet konkret: Auch wenn ein Gebäude konform der Bauordnung (die im jeweiligen Bundesland gilt) gebaut wurde, könnten Betroffene ihren Anspruch auf Barrierefreiheit, zum Beispiel gegen einen Hotelbetreiber, gerichtlich geltend machen, weil dies im BGStG so vorgesehen ist – und der Gesetzgeber – in diesem Fall das Land Niederösterreich – darauf verzichtet hat, dieses Gesetz entsprechend zu berücksichtigen.

Eine fatale Situation für den Hotelbetreiber: Er hat im guten Glauben gehandelt – die Baunorm des Bundeslandes wurde ja eingehalten –, und nun sieht er sich mit rechtlichen Problemen aufgrund der Nichteinhaltung eines Gesetzes konfrontiert. Wer hat hier eigentlich seine Hausübungen nicht gemacht?

Aktuelle Entwicklung und Ausblick

Und statt dieser besorgniserregenden Entwicklung im Jahr der zweiten Staatenprüfung endlich ein Ende zu setzen, bahnt sich nun die nächste Katastrophe an: Von den Vertretern der OIB im Normungsinstitut (Austrian Standards Institut, ASI) wurde nun eine Anpassung der Ö-Norm B1600 an die OIB-Richtlinie 4 (Fassung 2015) gefordert. Begründet wird das Vorhaben damit, dass die Ö-Norm der OIB-Richtline widerspreche und man diese Rechtsunsicherheit beseitigen wolle beziehungsweise – gemäß dem neuen Normengesetz sogar – müsse.

Der ÖZIV-Bundesverband hat zu diesem Projektvorhaben eine Stellungnahme eingebracht, in der er eindringlich davor warnt, dadurch weitere Verschlechterungen in Sachen Barrierefreiheit zu befördern. Der höhere Standard der Norm an die Anforderungen von barrierefreiem Bauen ist nicht nur rechtlich zulässig, sondern stellt immer noch das tauglichste Instrument für Planer und Architekten dar, wenn es um Standards für barrierefreies Bauen geht. Überdies handelt es sich weder bei den Normen noch bei den OIB-Richtlinien um Gesetze, das heißt Widersprüche beziehungsweise andere Standards in der Ö-Norm und den OIB-Richtlinie sind per se nicht als Problem zu sehen, sondern eigentlich logisch – geht es bei der Ö-Norm um die Definition des aktuellen Standes der Technik, während die OIB-Richtlinien ein Instrument der Länder für technische Mindeststandards darstellen! Auch das von der OIB ins Treffen geführte Kostenargument für höhere Standards bei barrierefreiem Bauen ist dann leicht zu entkräften, wenn man nachhaltig bauen möchte: Barrierefreies Bauen und Planen verursacht nachweislich erheblich geringere Kosten, wenn es von Anfang an mitgedacht wird. Spätere Adaptierungen kosten ein Vielfaches.

Zielkonflikte und Machtgerangel

Inwieweit die akkordierte Presseaussendung und der gemeinsame Aufschrei zu dem Vorhaben von mehreren Organisationen rund um den Österreichische Behindertenrat (Behindertenanwaltschaft, Klagsverband, Bizeps, Selbstbestimmt leben Österreich) zu einem Umdenken des Komitees des Österreichischen Normungsinstituts führen wird, bleibt abzuwarten. Fest steht, dass es hier Zielkonflikte gibt und es letztlich wieder einmal um ein Machtgerangel geht. Obwohl die Länder unter dem Vorsitz des damaligen Landeshauptmanns Erwin Pröll dem Thema Barrierefreiheit ihre Aufmerksamkeit widmeten, zieht das ausschließlich im Einflussbereich der Länder stehende OIB genau in die entgegengesetzte Richtung. Zur Erinnerung: Am 6. Mai 2015 wurden wir von der Verbindungsstelle der Bundesländer folgendermaßen informiert: "Die Landeshauptleutekonferenz anerkennt die Notwendigkeit rechtlicher Vorgaben im Hinblick auf die Barrierefreiheit und unterstützt alle Bemühungen von Verbänden, die Unternehmen bei der Herstellung der Barrierefreiheit beraten."

In den vergangenen drei Jahren haben sich die Dinge auf der rechtlichen Ebene weiter verschlechtert. Wir wollen dranbleiben und weiterkämpfen für die umfassende Barrierefreiheit – dafür werden wir aber die Unterstützung aller brauchen. Denn die Lösung des Problems liegt in einem hohen Ausmaß bei den Bundesländern – dort müssen wir den Finger in die Wunde legen! (Julia Jungwirth, 7.5.2018)