Sznaider: Analysiert "Gesellschaften in Israel".

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Natan Sznaider, "Gesellschaften in Israel. Eine Einführung in zehn Bildern", € 28,80 / 318 Seiten. Insel-Verlag 2018

Dieses Buch eröffnet neue Perspektiven und bietet vielseitige Einsichten, weil es den klaren Blick jenseits der einäugigen Anschauungen wagt. Gesellschaften in Israel. Eine Einführung in zehn Bildern: Natan Sznaider ist mit seinem Band gelungen, woran die meisten Monografien über dieses Land scheitern, denn er versucht nicht, den Judenstaat und die Auseinandersetzungen, die um ihn wogen, auf einen Punkt zu bringen. Im Gegenteil: Was hier überzeugt und überrascht, ist die Widersprüchlichkeit, mit der uns Sznaider aufwartet.

Sznaider lehrt in Tel Aviv Soziologie. Mit Daniel Levy veröffentlichte er 2001 die herausragende Studie Erinnerung im globalen Zeitalter. Ich selbst durfte mit Sznaider zwei Bücher publizieren und bin mit ihm befreundet, doch mit seinen Gesellschaften in Israel weiß er mich ein weiteres Mal zu überraschen.

Momentaufnahmen

Natan Sznaider geht von Bildern aus, von Momentaufnahmen, mit denen er jene verschiedenen Aspekte durcharbeitet, die diesen kleinen Staat im Nahen Osten prägen. Er meidet nicht das Abseitige, nicht das Grelle und nicht das Dunkle. Er schildert ein Land, von dem kaum einer sagen kann, wie es überhaupt bestehen kann, doch ein jeder, selbst der schärfste Kritiker, muss zugeben, es besteht durchaus, allen Krisen zum Trotz und mit gar nicht so wenig Erfolg.

Sznaider spricht über einen Staat ohne endgültige Grenzen, der um seine Unabhängigkeit kämpft und zugleich Besatzungsmacht ist. Über eine Nation, die jüdisch und israelisch zugleich sein will. Die Hauptstadt Jerusalem ist gespalten, doch auch gänzlich ein Heiligtum, um das mehrere Religionen streiten. Israel ist nicht in Europa, doch aus Europa, ist innerhalb Asiens, aber kein Teil davon, und es liegt am Rande, doch weitab von Afrika.

Mischmasch aus Kulturen

Sznaider präsentiert diesen Mischmasch aus Gemeinschaften, aus Völkern, Kulturen und Religionen, doch bei ihm wird das alles nicht zum Einerlei und Sammelsurium, sondern zu einem Potpourri aus je einzelnen Menschen. Das Panorama, das er entwirft, ist ein Getümmel aus Israelis und Palästinensern, aus Ultrareligiösen und Regenbogenparadiesvögeln, aus Kriegstreibern und Friedensbewegten jüdischer, muslimischer, christlicher, drusischer, arabischer oder auch russischer Herkunft. Sakrale und säkulare Viertel grenzen eng aneinander. Das ist das Land der Bibel, der Überlebenden und der Start-ups zugleich.

Sznaider gibt den Gruppen, von denen er erzählt, Namen und Gesichter. Er stellt uns Menschen vor: die jungen Engagierten aus den neuen sozialen Bewegungen, die Menschenrechtsgruppen, die rechtsextremen Siedler, den hebräischen Literaturnobelpreisträger Samuel Joseph Agnon (siehe Porträt rechts, "Sehnsüchtiger Nobelpreisträger"), den kritischen Filmemacher Assi Dayan, den arabischen Fußballstar Walid Badir aus der Nationalelf, die Papierlose Asmait Marshion aus Eritrea, die queere Dana International, Siegerin des Eurovision Song Contest '98 und wie sie ein neues Bewusstsein in ganz Israel, bis hinein in die Armee, repräsentiert.

Wir hören von den ethnischen Stereotypen, die im Verhältnis zwischen den orientalischen und den westlichen Juden, den Misrachim und den Aschkenasim, vorherrschen. Sznaider erzählt von Yitzhak Rabin, von dessen Nimbus, von dessen Ermordung, doch erspart uns auch nicht die Konfrontation mit seinem Attentäter und mit dessen ideologischer Welt.

Kein geschlossenes Bild von Israel

Sznaider weigert sich zu Recht, ein ganzheitlich geschlossenes Bild von Israel zu offerieren, sondern verblüfft uns immer wieder mit Unerhörtem. Nie macht er klar, ob seine Kritik und seine Analysen von rechts oder von links kommen, denn niemand wird von ihm geschont. Keiner entgeht seinem scharfen Urteil. Er weitet unseren Blick.

Das Buch ist der Beweis, was moderne Soziologie vermag. Wir lesen und wir staunen über die Vielfalt eines Landes, das nur im Plural existiert. Aber vor allem ist Sznaiders Werk mehr als die Darstellung des einen Staates Israel, da er mit seinem präzisen Blick auf dieses Land viel über manche anderen westlichen Gesellschaften verständlich macht, doch ebenso über die Zeit, in der wir leben.

Er löst keine Konflikte

Sznaiders Stärke liegt in seiner Weigerung, sagen zu wollen, was Israel sein soll, sondern er redet davon, was es – entgegen allen Erwartungen – geworden ist, wobei dagegen eingewendet werden mag, es werde so ausgeblendet, was noch geschehen könnte. Aber Sznaider löst keine Konflikte, und er löst auch die Gegensätze nicht auf, sondern er lässt sie auf uns einwirken. Er erklärt, Israel sei "ein Land, in dem heute grundlegende Fragen von Nationalstaatlichkeit geradezu beispielhaft erprobt werden".

Zum Schluss – in den letzten Zeilen seines Buches – erinnert der Autor Natan Sznaider allerdings doch an eine Zuversicht und an die Vision vom Judenstaat aus früheren Zeiten: "Nicht umsonst ist die israelische Nationalhymne der Hoffnung gewidmet. Franz Kafka soll einst geschrieben haben: 'Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns.' Doch es ist in meinen Augen der einzige Weg, der Israel und der Region eine Zukunft ermöglicht. Das ist das, was ,jüdisch und demokratisch' im Endeffekt heißt." (Doron Rabinovici, 6.5.2018)