Mit #MeToo und Geflügel-Makarena-Ironie zum Sieg? Netta Barzilai aus Israel.

APA / AFP / Jack Guez

Der Autor, Cartoonist und DJ Tex Rubinowitz ist auch ein großer Freund des Eurovision Song Contest.

Im STANDARD-Forum postete kürzlich ein User namens The Big Boiler, nachdem er alle 43 Teilnehmer des diesjährigen Eurovision Song Contest im Schnelldurchlauf gesehen hatte: "Das ist ja alles GRAU-EN-HAFT!"

Solche Pauschalurteile, die alles unter Generalverdacht des Schauerlichen stellen, was da jedes Jahr im Mai in Europa und ein bisschen darüber hinaus aufgefahren wird, sind ja noch ganz erfrischend, und man wäre damit ja zufrieden, wenn dann nicht auch noch die dauerbeleidigten Reflexhasser und notorischen Besserwisser ankämen als Hüter der wahren musikalischen Werte, die seit 62 Jahren, seit Bestehen dieses Wettbewerbs, vom kulturellen Verfall zu schwadronieren die Gelegenheit bekommen.

Die 43 Teilnehmer im Schnelldurchlauf.
Eurovision Song Contest

Nur machen sie einen Denkfehler, wie man es von ihnen auch nicht anders erwartet, sie denken, beim ESC ginge es um Musik und sonst nichts, und es gäbe einen ESC, aber den gibt es eben nicht, über sechs Dekaden hat er sich derartig oft verpuppt, aufgesplittert, ist mutiert, hat seltsame Blüten und Triebe gebildet, natürlich auch mit grauenhaften Resultaten, das gehört ja dazu, damit die andere Seite umso schillernder, faszinierender, großartiger, verblüffender sein kann.

Leidenschaftslosigkeit wird nicht geduldet

Die Musik ist ein Teil der ganzen Inszenierung, der andere Teil ist das irisierende Happening, das ganze Gebilde, das wohltuend altmodische, letzte Fernsehmöbel. Fände man das alles genauso toll, wenn man es nicht sähe? Das einzig Konstante dieser fossilen, flamboyanten Veranstaltung ist, dass sie stattfindet. Und dass man sie liebt oder hasst, Leidenschaftslosigkeit wird nicht geduldet.

Und immer wieder kommt es zu Zäsuren, neue Stile werden ausprobiert, um den Wettbewerb in eine andere Richtung zu manövrieren, bei Abba war das 1974 so, bei Lordi 2006 ebenfalls, und auch letztes Jahr in Kiew, als ein etwas zerrupfter Mann namens Salvador Sobral für Portugal, nun ja, sang, eher sich verrenkend hauchte, und unaufgeregt und dennoch ernsthaft den favorisierten, virilen Italiener abhängte, der bei der spannenden Punktevergabe am Ende sichtbar erstarb, Introspektive gewann gegen Partypeople-Hedonismus.

Als dann auch noch hinterher rauskam, dass der Portugiese schwer herzkrank war, machte das Resultat umso märchenhafter, dass nach neunundvierzig erfolglosen Teilnahmen Portugal nun auch einmal siegen durfte, und ein paar Monate später bekam Sobral auch noch ein frisches Herz, und wen das nicht rührt, der muss anstelle eines Herzens einen Kühlschrank haben. Auch das gehört eben zum ESC.

Netta Barzilai, die "Butterful Creature"

In diesem Jahr gibt es ein Problem, und das ist Netta Barzilai. Netta ist die israelische Teilnehmerin, die bereits im Vorfeld, bei den Beobachtern, den Wettbüros, den Supatopcheckerbunnies dermaßen weit vorne liegt, dass es ein Wunder wie im letzten Jahr bräuchte, ihr noch den Sieg zu nehmen. Und das macht den Wettbewerb dieses Jahr eher unüberraschend und vorhersehbar.

Eurovision Song Contest

Nettas Siegesformel ist relativ einfach, sie konfrontiert das hauptsächlich schwule Publikum mit bekannten Bausteinen, sie hat ein Trotzcharisma, sie ist stolz, klein und dick, ihr Lied ist ein Konglomerat aus dem, was biestige Weiber wie Missy Elliot, Beth Ditto und Marija Serifovic, die kämpferische Siegerin aus Serbien von 2007, gemacht haben, Fruchtfliege und Lesbe in einem, Männern nicht unbedingt in freundlicher Absicht ins Gesicht zu springen, die Haltung ist eine, mit der sich jeder Außenseiter identifizieren kann.

Zwischen #MeToo und Gangnam-Style

#MeToo ist drin, natürlich, statt "Look at me, I'm a beautiful creature" singt sie "... butterful creature", das ist alles so prachtvoll vorhersehbar, uninnovativ und altbacken, alles geht durch diesen entsetzlich billigen Autotunehäcksler, und dann kommt der wuchtige Refrain, er fräst sich, ohne Feinde zu machen, ins Ohr und bleibt dort, ihr gackerndes Hühnergetue ironisiert Komplettverblödungen wie Makarena oder K-Pop à la Gangnam-Style, und das Lied hat bei Youtube jetzt schon 18 Millionen Klicks, mehr als alle anderen Teilnehmer zusammen. Zeilen wie "I'm not your toy, you stupid boy" erinnern natürlich an die großen, selbstbestimmten Schwulendiven, wenn sie wie Marlene Dietrich "Männer umschwirr'n mich wie Motten das Licht" und Lesley Gore "You don't own me" singen, nein, behaupten.

Ich lass mir einfach nicht mehr alles gefallen, und das gefällt natürlich jedem, der sich in welcher Form auch immer unterdrückt fühlt, ein bisschen hat Nettas Attitüde auch mit Conchita Wursts pathetischem Statement von vor vier Jahren zu tun: "We are unstoppable", auch wenn nicht ganz klar ist, wer diese Wir sind. Barthaare?

Ach ja, und wo bleibt Cesár Sampson, der Teilnehmer aus Österreich, der irgendwann mal im Chor der bulgarischen Teilnehmer war? Unstoppbar irgendwo im Mittelfeld der Leidenschaftslosigkeit versenkt, dort, wo ihn niemand sehen kann, und das ist auch besser so. (Tex Rubinowitz, 7.5.2018)