Erste Großkundgebung von Erdoğan in Istanbul für diese Wahlen: Der Staats- und Parteichef stellte am Sonntag sein "Manifest" vor – mehr Investitionen, mehr Wachstum und eine "Zeitenwende" für die Türkei.

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Kandidat aus Edirne: Selahattin Demirtaş, ehemaliger Vorsitzender der prokurdischen Minderheitenpartei HDP, muss seinen Präsidentenwahlkampf von einem Hochsicherheitsgefängnis in Edirne aus führen.

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"Volksbündnis" gegen "Republikbündnis": Bei der türkischen Parlamentswahl am 24. Juni, die zeitgleich mit der Präsidentenwahl stattfindet, treten erstmals Parteien auf gemeinsamen Listen an. Staatschef Tayyip Erdoğan hatte dafür extra das Wahlgesetz ändern lassen. Das "Republikbündnis" seiner konservativ-islamischen AKP mit der rechtsgerichteten MHP soll die frommen und die nationalistischen Türken sammeln.

Doch die Idee mit den Wahlbündnissen könnte ein Eigentor werden. Denn das vergangene Woche gebildete "Volksbündnis" – Milli İttifak – aus Sozialdemokraten (CHP), Nationalisten (IYI), Islamisten (Saadet) und Konservativen (DP) hat ebenfalls einiges Potenzial. "Sie können die Mehrheit im Parlament gewinnen", sagt Ulaş Karakul, Direktor des Wahlforschungsinstituts Mediar Analiz, in einem Interview mit dem Portal "Diken".

Karakul und sein Ko-Direktor Haluk Çaliş hatten ihre jüngste Umfrage Ende April veröffentlicht. Damals hatten sie 42,5 Prozent für Erdoğans Republikbündnis errechnet und dafür 2.660 Wähler befragt. CHP und IYI wären zusammengerechnet auf 40 Prozent gekommen; allerdings sind einfache Additionen nicht möglich. Mithilfe der gemeinsamen Listen können kleine Parteien die Zehnprozenthürde umgehen und haben bei der Stimmauszählung auch noch einen kleinen Vorteil.

Vorteil für die Kleinen

Im Fall der Viererallianz wird sich das günstig für die Saadet-Partei und die Demokratische Partei auswirken. Die Islamisten der Saadet etwa kamen bei der Parlamentswahl im November 2015 landesweit nur auf 0,7 Prozent. Ihre besseren Ergebnisse erzielen sie an der Schwarzmeerküste und in Zentralanatolien. Doch sie können attraktiv sein für fromme konservative Wähler, die mit Erdoğans AKP nicht mehr einverstanden sind. Das neue Parlament wird 600 Sitze haben, 50 mehr als das bisherige, und ist verfassungsrechtlich abgewertet gegenüber dem Amt des Staatspräsidenten.

Alle seit Ende April verbreiteten Meinungsumfragen halten die Demoskopen von Mediar Analiz für Unfug. Diese würden weder die Bildung der Vierparteienallianz berücksichtigen noch die Nominierung von Muharrem İnce, dem Präsidentenkandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP), am vergangenen Freitag. Die Wähler würden jetzt neu überlegen, glauben Karakul und Çaliş. Auch einen Sieg über Erdoğan in einer Stichwahl um das Präsidentenamt – sie würde am 8. Juli stattfinden – halten sie nun für möglich.

Prognose: 55 Prozent für Erdoğan

Die regierungsnahe Tagezseitung "Habertürk" hatte am Freitag eine Präsidentenwahlumfrage von Konsensus veröffentlicht: 55,1 Prozent für Erdoğan, 44,9 Prozent für den Kemalisten İnce. Doch diese Telefonumfrage unter 1.000 Wählern war kurz vor İnces Nominierung und seinen ersten Wahlkampfauftritten am Wochenende durchgeführt worden.

Generell gilt, dass mit der Zahl der Präsidentenkandidaten die Chancen für eine zweite Runde größer werden. Anders als im August 2014 könnte Erdoğan nicht im ersten Wahlgang gleich über 50 Prozent der Stimmen kommen. Neben İnce treten die Nationalistin Meral Akşener, der Islamist Temel Karamollaoğlu und der inhaftierte frühere Ko-Vorsitzende der prokurdischen Minderheitenpartei HDP, Selahattin Demirtaş, an. "Ich bin der einzige Kandidat der Linken", stellte Demirtaş nun in einem Interview mit der türkischen Redaktion der BBC fest; das Gespräch wurde über seinen Anwalt geführt. Ob İnce oder eher Akşener in eine Stichwahl gegen Erdoğan kommen wird, ist auch offen.

Kalkül mit Kurden

Die kurdischen Wähler sind wie immer eine strategisch wichtige Gruppe für die großen Parteien: Konservative sunnitische Kurden, die bei früheren Wahlen für die AKP gestimmt haben, dürften sich dieses Mal zumindest bei der Parlamentswahl anders entscheiden. Erdoğans Bündnis mit den türkischen Nationalisten verprellt sie. Das Ende der Friedensverhandlungen mit der PKK 2015 und der anschließende Krieg in den mehrheitlich kurdischen Städten im Südosten kommen hinzu. Bei der Präsidentenwahl mag dieser Teil der Kurden pragmatisch weiter für die Macht stimmen und Erdoğan wählen.

Muharrem İnce, der Kandidat der größten Opositionspartei CHP, hat deshalb bei seinen ersten Wahlkampfauftritten "mutige Schritte" für die Lösung der Kurdenfrage angekündigt. Sonderlich attraktiv ist die CHP für die Kurden allerdings nicht. Die alte Staatspartei der Kemalisten hatte 2016 im Parlament für die Kollektivaufhebung der Immunität der Abgeordneten gestimmt, was einen Großteil der HDP-Fraktion samt Demirtaş ins Gefängnis brachte.

Messerangriff

Meral Akşener wiederum hatte ihr Amt als Innenministerin in den 1990er-Jahren bekleidet, auf einem Höhepunkt des Krieges gegen die PKK im Südosten des Landes. An einem Wahlkampfstand von Akşeners Guter Partei (İyi Partisi) im Istanbuler Stadtteil Bağcılar wurden am Sonntagabend acht Menschen durch Messerstiche verletzt. (Markus Bernath, 7.5.2018)