Begonnen hatte alles ganz harmlos mit der Frage: "Was zieh ich heute an?" Bis der Sessel zum Ablegestuhl wurde.


Foto: Lukas Friesenbichler, Set-Design: Magdalena Rawicka

Diese Geschichte erschien im Rahmen eines Schwerpunkts im RONDO zum Thema (Un-)Ordnung.

Foto: Lukas Friesenbichler

Es hätte alles so einfach sein können. Die Rahmenbedingungen stimmten. Altbau, drei Meter hohe weiße Wände, ein Dielenboden mit Charakter, mittendrin ein stabiler Sessel. Fehlten nur noch vier, fünf Farbtupfer in Pastell, und das Instagram-Glück wäre perfekt gewesen. Es kam anders.

Los ging es mit einer Frage: "Muss der da rein?" Der Freund stocherte mit dem Zeigefinger unbestimmt in der Luft herum, gemeint war natürlich der Neue. Der geschwungene weiße Sessel aus Kunststoff sollte ins frisch gestrichene Arbeitszimmer einziehen: "Auf dem willst du arbeiten, echt jetzt?" Keine Frage, das war ein Vorwurf.

Vielleicht war Eifersucht im Spiel. Sie wäre dem Freund nachzusehen gewesen, ein wenig Schwärmerei für den Panton Chair war anfänglich nicht abzustreiten. Der Neue, das musste der Freund verstehen, war ein Traumtyp: robust, gut in Form und irgendwie auch stilsicher. Dass er schon im Vorfeld für Ärger gesorgt hatte, wurde ihm sofort verziehen. Was kann schon ein solch gut gebauter Kerl für Lieferprobleme des Herstellers?

Der Plan nach der Zimmerrenovierung lautete also: Dieser Sessel soll zum Herrscher über ein 15-Quadratmeter-Reich, zum Held im Home-Office werden. Dafür gab es gute Gründe. Erstens: Kein Gequietsche, kein Geächze, der minimalistische Panton Chair erledigt seine Arbeit geräuschlos. Zweitens: Abnutzungserscheinungen sind so schnell nicht zu befürchten. Drittens: Er passt sich lückenlos in jenen aufgeräumten Social-Media-Traum zwischen weißer Wand und Dielenboden ein.

Das war entscheidend. Es galt, die Wohnung als Spiegel eines aufgeräumten Selbst zu inszenieren. Wer seine 15 Quadratmeter Arbeitszimmer im Griff hat, bekommt auch den Rest hin, das war nicht zuletzt das angesagte Mantra von Marie Kondos Zeitgeist-Bestseller "Magic Cleaning". Irgendwann wiederholte das schlechte Gewissen das kleine Einmaleins der magischen Aufräumarbeit wie im Schlaf.

Aufgeräumte Phase

So ging erst einmal auch alles gut. Die aufgeräumten Kräfte behielten die Oberhand. Wochentags wurde morgens um neun auf dem blank polierten Schreibtisch der Laptop aufgeklappt, die Müslischale, befüllt mit Himbeeren, Nüssen und Chiasamen, thronte als Selbstvergewisserung (voll gesund und alles im Griff!) daneben, auf der Sitzfläche des Sessels machte sich höchstens ein verknautschtes Kissen breit.

Vielleicht wäre es immer so weitergegangen, wäre das Arbeitszimmer nicht irgendwann Geschichte gewesen. Der Rechner wurde jetzt nicht mehr zu Hause im Pyjama, sondern im Großraumbüro hochgefahren. Die Idee vom schönen neuen Arbeiten auf 15 Quadratmetern fiel in sich zusammen. Keine Instagram-Story in den vier Wänden mehr, diese Vernachlässigung hinterließ ihre Spuren.

Die Entmachtung des Superhelden im Home-Office nahm ihren Lauf, von heute auf morgen stand der gut gebaute Kerl nicht mehr im Mittelpunkt. Schlimmer noch. Statt in Social-Media-Welten einfach nur schön rumzustehen, musste er handfeste Probleme bewältigen.

Jeden Abend wurden nun Socken, T-Shirts, Hosen auf ihm abgeladen. Während der ersten Arbeitswochen der Schreiberin im Großraumbüro verschwand er daheim unter unzähligen Lagen an "Was zieh ich nur heute wieder an?"-Outfits. Der selbstbewusste Panton Chair war von der Schreiberin zum Ablegestuhl degradiert worden. Demütigender hätte es für die einstige Nummer eins im Arbeitszimmer nicht kommen können.

Die Monate zogen dahin, die Begegnungen mit ihm beschränkten sich von Montag bis Freitag auf eine knappe morgendliche Begrüßung (sie bestand aus dem hastigen Zusammensuchen von T-Shirt, Hose, Kapuzenpullover, drei Minuten) und eine Verabschiedung im Dunkeln (dem Eintauschen des Büro-Outfits gegen eine Jogginghose, 1,5 Minuten).

Schatten seiner selbst

Mit dem neuen Job der Schreiberin wurde der Sessel zum Schatten seiner selbst, zum stummen Diener in einem funktionslosen Raum. Eine Zeit lang versank der Panton Chair in Selbstmitleid, er empfand seine neue Rolle als Kränkung: Wie hatte man ihm das Rampenlicht von heute auf morgen verwehren können?

Nach einem halben Jahr aber sah die Sache anders aus. Der Sessel hatte sich mit seinem Schattendasein arrangiert. Ihm war klargeworden: Jetzt war er Geheimnisträger für Unaufgeräumtheiten aller Art. Der Ablegestuhl steckte seine Nase Tag für Tag in Angelegenheiten, die sonst im Verborgenen blieben: Getragene Socken, lippenstiftverschmierte Blusen, schokoladenbefleckte Röcke. Der Sessel genoss nun die Nähe all jener abgestellten Dinge, für die Marie Kondo ("Behalte nur, was dir Freude macht. Besitze nur, was du brauchst") längst den Rauswurf vorgesehen hätte.

Irgendwann war es so weit. Er konnte die Launen der Schreiberin an ihrer abgelegten Kleidung ablesen. An Montagen zum Beispiel, wenn morgens um sieben in der Küche nebenan der Wasserkocher blubberte und im Radio die neuesten Eskapaden des amerikanischen Präsidenten (Trump entlässt engen Mitarbeiter!) verkündet wurden, ging es im Arbeitszimmer besonders hektisch zu: Bügeleisen einstecken, drei weiße Blusen und T-Shirts (mit Rüsche oder ohne Kragen, was zieh ich nur an?) aufs Bügelbrett werfen, anbügeln. Nach schnellem An- und Ausziehen vor dem Spiegel landeten zwei der drei halbfertigen Bügelstücke im hohen Bogen auf dem (na klar!) Ablagestuhl.

Gute Zeiten, schlechte Zeiten

Jene Tage, dafür entwickelte der Sessel schnell ein Gefühl, gingen selten gut aus. Es bedurfte keiner großen Worte zwischen Schreiberin und Ablegestuhl, meist aber täuschte ihn sein Gefühl nicht: Bahn verpasst, Handy-Akku halbleer, keine zündenden Ideen für die kommenden Redaktionssitzungen – das verschwitzte, zerknitterte T-Shirt auf dem Stuhl erzählte von den kleinen Kämpfen einer Redakteurin.

Das Wunderbare aber war: Dank des kräftigen Ablegestuhls gerieten die täglichen Scharmützel mir nichts, dir nichts in Vergessenheit. Denn auf dem Sesselrücken wuchs ein wahrer Kleiderberg heran. Auf Instagram wäre solch ein Chaos ganz schlecht angekommen. Im echten Leben war das zum Glück anders. (Anne Feldkamp, RONDO, 2.1.2019)


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