"Weg mit § 219a" forderten Frauenorganisationen und Abgeordnete Mitte Februar vor dem Deutschen Bundestag.

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Eike Sanders, Kirsten Achtelik, Ulli Jentsch: "Kulturkampf und Gewissen. Medizinethische Strategien der 'Lebensschutz'-Bewegung". Verbrecher-Verlag 2018, 159 Seiten, 15 Euro

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Keine schöne, aber sehr informative Lektüre ist das Buch "Kulturkampf und Gewissen. Medizinethische Strategien der 'Lebensschutz'-Bewegung", das die ideologischen, organisatorischen und weltanschaulichen Hintergründe der sogenannten "Lebensschützer_innen" aufdröselt, die derzeit in Deutschland, aber auch international versuchen, die von der Frauenbewegung erkämpften Möglichkeiten der reproduktiven Selbstbestimmung wieder zurückzudrehen.

Interessant fand ich dabei vor allem, wie geschickt die Argumentationen versuchen, freiheitliche Debatten und Aspekte aufzunehmen und in ihrem Sinn zu drehen: Kritik an behindertenfeindlichen "Optimierungsversuchen" in der modernen Reproduktionsmedizin und Ansätze zur Betonung der Selbstbestimmung von Frauen. Kern des Arguments ist die Behauptung, dass Abtreibung in aller Regel gegen den Willen der Schwangeren vorgenommen wird, weil entweder die Gesellschaft die Geburt von Kindern mit Behinderungen vermeiden will oder aber die Familie oder der Ehemann/Partner der Frau keine Kinder will.

Paragraf 219a

Ich finde das Thema sehr wichtig, und es besorgt mich ein bisschen, dass die Aufregung und der feministische Aktivismus nach der Verurteilung der Gießener Ärztin Kristina Hänel nach Paragraf 219a wieder verebbt sind. Unsäglich in dem Zusammenhang ist natürlich der Rückzieher der SPD von der gemeinsamen Gesetzesinitiative zur Abschaffung dieses Paragrafen. Aber sie scheint damit ja durchzukommen, weil auch der gesellschaftliche Drive bei dem Thema nicht da ist.

Es sieht daher leider so aus, als bekämen die Rechten für ihren Anti-Abtreibungs-Aktivismus kaum Gegenwind aus der "gesellschaftlichen Mitte". Vielleicht hat es mit Demografie zu tun (viele Feministinnen sind aus dem gebärfähigen Alter raus), vielleicht mit individualisierter Selbstüberschätzung (viele jüngere Frauen denken, sie haben das im Griff, ihnen passiert das nicht, oder wenn, wissen sie sich zu helfen). Es hat vielleicht auch damit zu tun, dass dieses Thema noch mehr als andere sich nach reinem "Frauenkram" anhört.

Mehrheit organisieren

In gewisser Weise ist es schlau von den Rechten und "Lebensschützern", dieses Thema gerade jetzt wieder aufzumachen, wo die Frauenbewegung gerade zu einer Art Plattform gegen Rechtspopulismus und Nationalismus wird. In Ländern wie Polen oder Irland ist es ja noch schlimmer, aber dort ist wirklich eine Bevölkerungsmehrheit gegen Abtreibung. Gerade deshalb wäre es aus meiner Sicht einfach wichtig, dass wir in Deutschland hier gegen den Paragrafen 219a angehen – denn es gibt eine gesellschaftliche Mehrheit für dessen Abschaffung, da bin ich mir ziemlich sicher. Wir schaffen es bloß nicht, diese Mehrheiten auch parlamentarisch relevant zu organisieren. Was für ein Trauerspiel!

Im Übrigen ist natürlich auch wichtig, wie wir unseren Einsatz begründen. Ich persönlich halte ja nichts von Banalisierungsversuchen nach dem Motto: "Sind doch nur Zellhaufen, ist nichts weiter dabei bei so einer Abtreibung." Nicht einmal unbedingt deshalb, weil ich dieser Aussage nicht zustimmen würde, sondern weil sie den Fokus des Streits auf ein falsches Thema lenkt.

Ethische Position

Beim Streit über reproduktive Rechte geht es nicht um eine wissenschaftliche oder philosophische Auseinandersetzung darum, welche ethische Position man in Bezug auf befruchtete Eizellen oder Föten einnimmt. Es geht um die Frage, welche ethische Position man zum Selbstbestimmungsrecht von Frauen* über ihren Körper einnimmt.

Eine befruchtete Eizelle ist – mindestens in den ersten Monaten der Schwangerschaft – untrennbar vom Körper der schwangeren Person. Selbst wenn man eine ethisch radikale Haltung einnimmt und glaubt, die Tötung eines Fötus sei moralisch verwerflich, bedeutet das nicht unbedingt, dass man auch für ein gesetzliches Verbot ist – eigentlich ganz im Gegenteil, wie ich hier für evangelisch.de mal argumentiert habe. Eine solche radikale ethische Position durchzusetzen kann man nicht dem Staat überlassen. Das muss die Schwangere selber entscheiden.

Staat und Gesellschaft

Die Ansicht, man müsste die ethische Entscheidung über eine Abtreibung von der schwangeren Person auf Staat und Polizei übertragen, beinhaltet letztlich keine Aussage über das Lebensrecht von Föten, sondern eine darüber, welche ethische Kompetenz wir als Gesellschaft Schwangeren, und das heißt in diesem Kontext Frauen, zugestehen.

Hier würde ich den Spieß also umdrehen und sagen: Es ist unethisch, wenn sich der Staat anmaßt, diese Form von ethischen Entscheidungen per Gesetz zu regeln. Es ist dem Thema nicht angemessen. Die Einzelfälle sind so unterschiedlich und oft auch komplex, dass niemand anderes als die betroffene Person in der Lage ist, das wirklich moralisch einschätzen und beurteilen zu können. Die Aufgabe der Gesellschaft besteht darin, sie dabei zu unterstützen und ihr, egal wie die Entscheidung ausfällt, die Umsetzung zu ermöglichen.

Denn die grundlegende feministische moralische Maxime, die hier im Spiel ist, lautet – nach einer Formulierung von Luisa Muraro – Man kann eine Frau nicht dazu zwingen, Mutter zu werden.

(Hier könnten wir jetzt noch drüber diskutieren, ob man denn durch das Gebären unweigerlich Mutter wird, aber das führte vielleicht zu weit. Ich meine: Ja. Und ich meine, dass die Herabwertung und Banalisierung des Gebärens in Teilen der feministischen Theorie tatsächlich auch dazu beigetragen haben, dass das Thema Abtreibung – ebenso wie das der Leihmutterschaft – sich so entwickelt hat: Nach dem Motto: Ist doch nicht so wichtig, dieses bisschen Schwangersein und Gebären, ist doch nach neun Monaten vorbei, und alle, die was anderes behaupten, sind biologistisch.)

Frauen unterstützen

Whatever, und um zum Buch zurückzukommen: Diese Art der Diskussion würde auch viele angebliche "Lebensschutz-Argumente" entkräften. Denn ja: Natürlich müssen wir als Gesellschaft uns auch viel mehr anstrengen, um Frauen zu unterstützen, wenn sie die Schwangerschaft zu Ende führen und ein Kind gebären, sei es gegen den Rat der Mediziner_innen, die eine wahrscheinliche Behinderung prognostiziert haben, gegen den Protest von Familien oder Vätern, die keine Kinder haben wollen, gegen die Widrigkeiten eines Arbeitsmarktes, der Mütter nicht haben will, gegen eine Wirtschaftslogik, nach der Kinderhaben sich "nicht rechnet" und Mütter systematisch verarmt werden.

Denn das feministische Motto lautet nicht: Abtreiben ist kein Problem. Das feministische Motto lautet: "Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine."

PS: Für diejenigen, die Italienisch können, hier noch ein ausführliches Interview mit Luisa Muraro zum Thema Abtreibung und Feminismus.

PPS: Muraro sagt: Abtreibung ist kein Recht, sondern manchmal einfach eine Notwendigkeit. Das Thema, um das es bei alldem geht, ist die unselige Verquickung von Staat/Gesetz und Autonomie des (weiblichen) Körpers. Ob Abtreibung, Reproduktionsmedizin, "Leihmutterschaft", Prostitution/Sexarbeit und so weiter – das sind Themen, in denen die ethische Entscheidung bei den betreffenden Frauen/Personen selbst liegen muss. Polizei und Justiz haben sich darauf zu beschränken, zu verhindern, dass andere Personen/Männer hier übergriffig werden und die Frauen/betreffenden Personen unter Druck setzen, zwingen, ausbeuten, ob in die eine oder in die andere Richtung. Feminismus stößt momentan überall an die Grenzen dessen, was Staat/Polizei/Gesetz regeln kann (auch bei #MeToo und Co). Das hängt alles miteinander zusammen. Unser Thema müsste sein, die "Legalisierung" dieser Bereiche zu bekämpfen (was bedeutet: sie nicht gesetzlich zu regeln, auch nicht als Verbote). (Antje Schrupp, 14.5.2018)