Heute stehen die Grundwerte der Europäischen Union im Fokus, die eigentlich unmissverständlich sind, die aber einige unterschiedlich verstehen wollen.

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Vor ziemlich genau 30 Jahren schrieb Viktor Orbán einen Brief an die Soros Foundation. Der aufstrebende Mittzwanziger hatte eben sein Studium an der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest abgeschlossen und im ungarischen Landwirtschaftsministerium zu arbeiten begonnen.

Die Wendezeiten waren damals, im Frühjahr 1988, für jemanden mit seinem politischen Instinkt bereits zu spüren. Also schrieb er in seine Bewerbung für ein Stipendium an der Oxford University: "Die Zivilgesellschaft wird zu einem Hauptelement des Überganges von der Diktatur zur Demokratie."

Heute ist aus dem jungen Hoffnungsträger, der 1989 tatsächlich Politikwissenschaften am Pembroke College in Oxford studieren durfte, ein Ministerpräsident des EU-Mitgliedslandes Ungarn geworden, der zu seiner erneuten Amtseinführung sagt: "Die Epoche der liberalen Demokratie ist zu Ende."

Damit schwingt sich Orbán einmal mehr zum Wortführer jener Mitglieder der Union auf, die den krassen Widerspruch zu deren Grundwerten suchen. Ihm, dem Polen Jarosław Kaczyński und anderen Mittelosteuropäern gilt der Autoritarismus alles und der Pluralismus nichts.

Das genaue Gegenteil verkörpert Emmanuel Macron, der davor warnt, dass Nationalismus, Revisionismus und Intoleranz Europa einmal mehr in den Abgrund reißen könnten. Das ließ der französische Präsident in Aachen anklingen (lesen Sie dazu auch: Richtungsstreit). Und das sagte er auch bei einer Rede vor dem Europaparlament vor wenigen Wochen, in der er den Gegensatz zur autoritären Demokratie, die Autorität der Demokratie, herausstrich.

Altes gegen neues Europa

Es ist wieder ein Kampf des "alten gegen das neue Europa", wie es seinerzeit US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vor der Irakinvasion 2003 ausdrückte. Damals ging es um die Gefolgschaft für Amerika, die Deutschland und Frankreich verweigerten, die Osteuropäer aber willfährig leisteten.

Heute stehen die Grundwerte der Union im Fokus, die eigentlich unmissverständlich sind, die aber einige unterschiedlich verstehen wollen. Dabei ist völlig klar: "Die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte", wie es im EU-Vertrag heißt, vertragen sich nicht mit autoritärem, manche meinen protofaschistischem Gedankengut.

Die Fragen, die sich in dieser Auseinandersetzung stellen, sind: Wie viel ideologische Substanz hat dieser Konflikt? Und welche Konsequenzen kann er für die Europäische Union haben?

Was die erste Frage betrifft, ist der Weg von Fake-News zu Fake-Politics nicht weit. Das Gerede vom Illiberalismus und einer "Christdemokratie des 21. Jahrhunderts" in Budapest ist bei genauerem Hinsehen die zynische Camouflage für eine Kleptokratie, die ihresgleichen in Europa sucht.

Ein Politiker vom intellektuellen Format Viktor Orbáns weiß natürlich ganz genau, dass Ungarns Wirtschaftswachstum zu einem guten Teil auf EU-Subventionen beruht und die niedere Arbeitslosigkeit auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und einer hohen Auswanderungsrate.

Aber weil in seiner neuen "Christdemokratie" nehmen seliger ist als geben, spricht er vom "wahnhaften Albtraum der Vereinigten Staaten von Europa". Denn mehr Integration, für die Macron einsteht, würde seine Kreise in Budapest nur stören. Lieber arbeitet er 30 Jahre nach seinem Soros-Brief am Übergang von der Demokratie zur Diktatur – unter anderem durch die Gängelung der Zivilgesellschaft.

Damit hat die Regierung Orbán die mehrheitlich EU-freundlichen Ungarn bereits an den Rand der Union geführt. In Brüssel gelten ihre Positionen als nicht satisfaktionsfähig. Vor schwerwiegenden Konsequenzen schützt Budapest nur die unheilige Allianz mit Warschau und sein Vetorecht etwa in Sachen neues EU-Budget, in dem viele Mitgliedstaaten Subventionen künftig an Rechtsstaatlichkeitskriterien knüpfen wollen.

Das wird Orbán mit aller Gewalt zu verhindern suchen. Die fortschreitende europäische Integration wird das nicht aufhalten. Budapest wird unter Orbán daran nicht partizipieren. Möglicherweise zu seinem Vorteil, ganz sicher zum Nachteil der Ungarn. (Christoph Prantner. 12.5.2018)