Barbara Nieddu – im Bild mit ihrer Tochter – wohnt in einem Dorf in Sardinien, wo die Menschen überdurchschnittlich alt werden. Ihrer Meinung nach liegt das am Essen.

Foto: Paulina Cerna

Es ist ein Sonntagvormittag im kleinen Ort Villagrande, der idyllisch in den hügeligen Hochlagen Sardiniens liegt. Neben dem typisch italienischen Dorfplatz mit Kirche, Post und Rathaus steht ein Amt, das es so sonst in keiner Gemeinde des Landes gibt. Simona Rubio ist Beamtin im Centro della longevità – dem Amt für Langlebigkeit. Sie bedient einen sperrigen Automaten, in dem unzählige handgeschriebene Akten durch einen Stahlkasten rauf und runter transportiert werden. Villagrande ist eines der sardischen Dörfer, die eine sogenannte Blue Zone bilden – Gegenden, in denen überdurchschnittlich viele Menschen ein sehr hohes Alter erreichen. "Die Geburts- und Sterbeurkunden beginnen im Jahr 1866", sagt Rubio. "Forscher haben damit die Authentizität der Langlebigkeit festgestellt und mit anderen Gemeinden verglichen."

Der belgische Demograf Michel Poulain war der Erste, der das Phänomen erkannte und mit den Akten beweisen konnte. "Ich nahm meinen blauen Stift und malte einen Kreis um die demografische Anhäufung", erzählt Poulain. Die Blue Zones waren geboren. In einer Publikation wurde der Begriff zum ersten Mal 2005 in einem Artikel von Dan Buettner in National Geographic genannt.

Lokales Essen und Bewegung

Neben den Bergdörfern in Sardinien identifizierte Poulain später die Insel Ikaria in Griechenland, Okinawa in Japan, Nicoya in Costa Rica und die Stadt Loma Linda in Kalifornien als solche Gegenden. Bis zu seinem Nachweis war das Phänomen belächelt worden. Sardische Männer würden gern mit ihrem Alter prahlen, hörten die Wissenschafter oft. Doch hier stand es schwarz auf weiß: Maurizio Scardu, geboren 1904, gestorben 2003. Nuccia Peroni, geboren 1917, ihr hundertster Geburtstag wurde vergangenen Frühling gefeiert.

"Hundertjährige gibt es auf der ganzen Welt – individuelle Hundertjährige. Aber in den Blue Zones gibt es gehäufte Fälle", sagt Poulain. Im Durchschnitt erreichen in der sardischen Blue Zone 21 von 10.000 Einwohnern ihr hundertstes Lebensjahr. Im Vergleich dazu sind es in den USA nur vier in 10.000.

Grafik: STANDARD

Der Demograf führt das hohe Alter auf eine Lebensweise zurück, zu der neben einem ausgeprägten Gemeinschaftsgefühl auch viel moderate Bewegung, Arbeit bis ins hohe Alter und vor allem lokales, naturbelassenes Essen gehören. Aber kann man aus Lebensweise und Essgewohnheiten der Inselbewohner allgemeingültige Regeln ableiten?

Seit den Anfängen von Poulains Forschung hat es viele Neugierige nach Sardinien verschlagen. Soziologen, Genetiker und Ernährungswissenschafter – sie alle wollen die Zonen und ihre Hundertjährigen vergleichen, ihr Geheimnis finden und des Rätsels Lösung durch ihr Fach begründen. Die Bewohner von Villagrande selbst haben recht einheitliche Erklärungen für ihre Langlebigkeit gefunden und betonen den Stellenwert ihrer Diät.

Barbara Nieddu, 95 Jahre alt, hat zu sich nach Hause eingeladen und berichtet, worin ihrer Meinung nach die Ursachen für ihr hohes Alter liegen: "Ich habe nur Freunde in diesem Dorf, man muss einander gut behandeln. Und gutes Essen ist auch wichtig." In Nieddus jüngeren Jahren sah das Leben in Sardinien noch anders aus: Viele der Männer lebten als wandernde Hirten.

Nieddu arbeitete wie viele andere Frauen auf dem Feld, erntete Bohnen und Kartoffeln – zwei der Hauptnahrungsmittel, die sich neben Getreide und Blattgemüse auf den Tellern der sardischen Blue-Zone-Bewohner finden. Andere Nahrungsmittel wie Fleisch oder Fisch essen die Bewohner kaum, und nur manchmal gibt es Tierprodukte wie Ziegenmilch.

Mit 100 Jahren in Pension

Nieddus Nachbar, Michelino Scudu, hat jüngst sein über 80 Jahre andauerndes Hirtenleben an den Nagel gehängt. 50 bis 60 Kilometer wanderte er jeden Tag mit seinen Ziegen. Vor kurzem feierte er seinen hundertsten Geburtstag mit seiner Familie, die sich aus vier Generationen zusammensetzt. Auch er sucht nach Erklärungen für sein hohes, gesundes Alter und sagt, dass er immer gut gegessen und eine Regel befolgt habe: Man müsse bei jeder Mahlzeit zu essen aufhören, bevor man völlig satt ist. Eine Regel, die auch Poulain beim Sammeln seiner Daten immer wieder hörte.

Der Wissenschaftsautor und Biologe Bas Kast hat für sein kürzlich erschienenes Buch Der Ernährungskompass tausende, einander oft widersprechende Studien zum Thema Ernährung ausgewertet und so versucht, die Vielzahl an Tipps für eine ideale Diät zu verstehen. Auch Forschungen zur Ernährung in den Blue Zones wurden so Teil seiner Erkenntnisfindung. Er hebt insbesondere die positive Wirkung von Nahrungsmitteln wie Olivenöl, Fisch und viel Gemüse hervor.

Das gute Gemeinschaftsgefühl machen die Bewohner des Dorfes Villagrande für die dortige hohe Lebenserwartung verantwortlich.
Foto: Paulina Cerna

Was Kast als Schlüssel zur Langlebigkeit identifiziert, ist die Reduktion der Kalorienzufuhr. Damit ist keineswegs wochenlanges, striktes Fastens gemeint – und auch nicht, insgesamt weniger zu essen. Kast empfiehlt lediglich, die Tageszeiten, zu denen gegessen wird, zu beschränken – etwa von neun bis 19 Uhr. Als entscheidenden Grund für die verjüngende Wirkung des zeitweisen Fastens sehen Forscher den Aufräumvorgang von Zellen, die sogenannte Autophagie. Sie setzt ein, sobald die Nahrungsversorgung knapp wird und die Zellen von einem Wachstumsmodus in einen Wartungsmodus übergehen. So können defekte Strukturen abgebaut und die Zellen quasi verjüngt werden.

Mangelnde Vergleichsdaten

Ist damit also das Geheimnis der Langlebigkeit in den Blue Zones gelüftet? Edoardo Fiorillo, Leiter des lokalen Forschungsinstituts Progenia und Autor von Studien in der Altersforschung, ist skeptisch. Er kritisiert, dass bei der Erforschung der Blue Zones wissenschaftliche Standards nicht erfüllt werden: "Ich finde es wirklich schwierig, dieses Thema zu verstehen, hauptsächlich aufgrund einer Ursache: Zahlen." Man müsse die Stichprobe an Befragten vergrößern, um in den Blue Zones zu standardisierten Ergebnissen zu kommen. Verlässliche Resultate bekomme man zum Beispiel, indem die Bewohner einer Testgruppe gegenübergestellt werden, die auf die typische Diät verzichtet. Das ist aber sowohl aus praktischen wie aus ethischen Gründen schwierig durchzuführen.

Es gibt noch eine weitere Erklärung, die von vielen als ausschlaggebend für die Langlebigkeit gesehen wird: Vielleicht haben die Bewohner der Blue Zones einfach nur sehr gute Gene. Tim Spector ist Professor am King's College in London und Autor des Buches Mythos Diät. Seit 20 Jahren untersucht er in Zwillingsstudien genetische Mechanismen, die mit gesunder Langlebigkeit assoziiert sind, und vergleicht sie mit der Lebensweise der Hundertjährigen. Sein Resümee? Das Alter, mit dem wir sterben, kann nur zu 25 Prozent durch Genetik erklärt werden. Spector: "Wir haben in all den Jahren nur ein Gen gefunden, das mit Langlebigkeit in Verbindung steht, und selbst das war schon aus der Alzheimerforschung bekannt."

Die Geburts- und Sterbedaten werden im Amt für Langlebigkeit gesammelt.
Foto: Paulina Cerna

Auch wenn die Erforschung der Blue Zones deswegen eine vielversprechende Methode sein könnte, etwas über verschiedene Lebensweisen zu erfahren, sollte man aus ihrem Vergleich keine allgemeingültigen Aussagen ableiten. Denn Spector spricht von statistischer Inkorrektheit bei der Stichprobe: "Es wurden extreme Populationen ausgewählt. Man könnte weltweit auch Hotspots für sehr große, dicke oder glückliche Menschen finden. Wenn die Proportion so klein ist, wird es schwierig zu generalisieren."

Zieht man nun Parallelen zwischen den Populationen in Sardinien, Japan und Costa Rica, sei das so wie Äpfel Birnen gegenüberzustellen. Man vergleiche nur scheinbar die gleichen Dinge.

Das heißt aber nicht, dass die Forschung keine gültigen Resultate liefert. Bas Kast spricht von vielen verschiedenen Ernährungswegen, um zu einem langen Leben zu kommen. So zeigten zwar viele Studien die Vorteile von protein- und fettarmer Ernährung, jedoch gab es auch Beispiele wie die bekannte Mittelmeerdiät, die das Gegenteil bewiesen. Hier bedeutete fettreiche Nahrung, meist in Form von Olivenöl und Fisch, ein geringeres Risiko für Krankheiten wie Brustkrebs oder Depression.

Mehrere Wege zur Langlebigkeit

Kurz gesagt: Fettreiche Ernährung kann gleich wie fettarme Ernährung sehr gesund sein und vor Krankheit schützen. Selbst wenn es so was wie die eine, ideale Ernährung nicht gibt, sieht Kast die Stärke in dem Grundgerüst an vielfältiger, lebensverlängernder Kost, aus der wir wählen können.

Und auch Tim Spector sieht die Ergebnisse in einem größeren Ganzen: "Das Schöne, das wir von den Blue Zones lernen können, ist, dass es mehrere Wege gibt, um gesund hundert zu werden." Es sei nicht die eine Geheimzutat, sondern die Diversität, die es zu umarmen gilt.(Katharina Kropshofer aus Villagrande, 17.5.2018)


Zum Weiterlesen:

Das Kochbuch der 100-Jährigen