Die rechtsextremen Aktivisten am Échelle-Pass, der von Migranten zur Überquerung der französischen Alpen benutzt wird.

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Die Kommandoaktion war perfekt geplant und dank 30.000 Euro an Internetspenden ausgiebig finanziert. Ende April kletterten an die hundert meist junge Leute auf den Col de l'Échelle, einen 1.762 Meter hohen Pass, sechs Kilometer von der Grenze zu Italien entfernt. Sie trugen Schneeschuhe und entrollten ein riesiges Transparent mit den Worten "Kein Durchgang – geht zurück in euer Herkunftsland". Zwei Helikopter und ein Sportflugzeug filmten den ungewöhnlichen Almauftrieb.

"Génération Identitaire" hatte wieder einmal zugeschlagen. 2012 hatte die Gruppierung in Poitiers schon eine in Bau befindliche Moschee geentert und ein Transparent gehisst, auf dem zu lesen war: "Karl Martell hat die Araber hier 732 zurückgeschlagen."

Zwei Jahre später spielten sich Vertreter in der U-Bahn von Paris und Lyon als Beschützer der Passagiere vor der "racaille" (Abschaum) aus den Vorstädten auf. Im Sommer 2017 mieteten sie dann ein Schiff, um im Mittelmeer Menschen auf Schlauchbooten an der Landung in Lampedusa zu hindern. Die Operation war technisch ein Fiasko, medial ein Großerfolg.

Und darum geht es den französischen Identitären, die in mehreren Ländern, auch in Österreich, Ableger haben. Im Unterschied zu anderen Splittergruppen des rechten Untergrunds – inklusive ihrer aufgelösten Vorgängerorganisation Identitärer Block – treten sie unverhüllt auf und geben sich gesetzeskonform. Der Hauptorganisator der Échelle-Operation, Damien Rieu, arbeitet zum Beispiel als Kommunikationschef von Beaucaire, einer vom Front National (FN) regierten Provence-Stadt.

Die Mitgliederzahl der Gruppierung wird auf 2.000 geschätzt, gut 200 bilden den aktiven Kern. Sie treffen sich unter anderem zu Sommeruniversitäten, die eher Fight-Clubs gleichen, besteht doch ein Kurs in Boxunterricht. Laut dem Rechtsextremismusexperten Nicolas Lebourg sind die Identitären heute eine "Kaderschmiede für den Front National". Vor fünf Jahren versagte FN-Präsidentin Marine Le Pen dem Identitären Philippe Vardon noch den Zutritt zur Partei – er war sogar ihr zu extrem. Heute sitzt er im Politbüro der Partei und zeigt sich gern an der Seite Le Pens, die, politisch geschwächt, auf Führungsfiguren wie ihn angewiesen ist.

Ratlose Justiz

Zugleich bleibt sie misstrauisch gegenüber den "rechten Trotzkisten" (so deren Übername im FN): Deren Mitglieder fühlen sich wie in einer Geheimloge verbunden. Da aber Le Pen nach ihrer verpatzten Präsidentschaftskampagne 2017 selbst einen radikaleren Kurs fährt, verringern sich die inhaltlichen Differenzen zu den Identitären, die offen gegen Migranten, den Islam und US-Globalisierung antreten; außerdem sind sie für einen christlichen Traditionalismus und die "europäische Identität" – im ethnischen, nicht im Sinn der EU.

Politik und soziale Medien in Frankreich beginnen erst jetzt, die Génération Identitaire (GI) wahr- und ernst zu nehmen. Facebook blockierte ihre Seite Anfang Mai ohne jede Diskussion. Das bot GI Gelegenheit, die "Zensur" durch angeblich obskure Machtträger anzuprangern – und verschafft ihr noch mehr Zulauf über andere Kanäle wie Twitter.

Die französische Justiz geht auch reichlich ungeschickt gegen die GI vor. Anfänglich befand die Staatsanwaltschaft, die Kommandoaktion auf dem Échelle-Pass sei "kein Rechtsverstoß". Das gelte auch für die Auslieferung von Migranten an die Grenzpolizei. GI-Vertreter hatten nämlich selbst posaunt, sie hätten Passüberquerer "ruhig und freundlich" zur Grenze zurückgeführt und der Polizei übergeben. Die Staatsanwaltschaft befand mit Verweis auf Artikel 73 des Strafrechts, dass es zulässig sei, Delinquenten, die mit einer Haftstrafe rechnen müssten – was bei illegaler Grenzüberschreitung theoretisch der Fall ist -, in flagranti zu stellen.

Dieser Justizentscheid sorgt auf der Gegenseite für umso mehr Empörung, als die Staatsanwaltschaft umgekehrt gegen französische Anwohner vorgeht, die Migranten nach deren Grenzübertritt aus Italien Kost und Logis gewähren.

Jetzt hat das Justizministerium in Paris aber ein Rundschreiben versandt, in dem das Verhalten der GI als – strafbare – "Aneignung einer öffentlichen Funktion" eingestuft wird. Artikel 73 komme nur zur Anwendung, wenn Delinquenten "vereinzelt" – also "unorganisiert" – auf frischer Tat gestellt würden. Die GI verstoße dagegen. Die Rückführung von Personen an die Grenze stelle deshalb, selbst wenn sie gewaltlos erfolge, ein Delikt dar, das mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden könne.

Gestützt auf diese Auslegung hat die französische Staatsanwaltschaft nun zwei erste Strafverfahren gegen die Identitären eröffnet. Der sehr politische Rechtsstreit steht damit erst am Anfang. Und er wird vor allem auf der Medienbühne ausgetragen werden. (Stefan Brändle aus Paris, 17.5.2018)