Welthungriger Augenmensch, der der Enge der Schweiz entkam: Paul Nizon.


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Paul Nizon, "Sehblitz – Almanach der modernen Kunst". Herausgegeben von Pino Dietiker und Konrad Tobler. € 20,60 / 302 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2018

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Einmal nannte Le Monde Paul Nizon einen Autor "allererster Ordnung", an anderer Stelle den "zurzeit größten Magier der deutschen Sprache", und alles, was dieser Schriftsteller hervorgebracht hat, Romane, Erzählungen, Journale, ist in jener unverwechselbaren Sprache verfasst, die der Kritiker Heinz Schafroth einst zurecht als "alleswagend" und als "schönheitstrunken" gepriesen hat.

Nizons Werke wurden in zehn Sprachen übersetzt, er selbst ist in allen Gegenden der Welt "herumstationiert" und wurde mit einer Unzahl von Preisen ausgezeichnet, unter ihnen, allein von österreichischer Seite, der Erich-Fried- und der Gert-Jonke-Preis sowie der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur.

Er weiß sich in Frankreich verstanden, versteht sich selbst als "Pariser Schriftsteller deutscher Sprache mit Schweizer Pass", ist notorischer Citoyen und Weltbürger (russischer Herkunft) und nennt das Nachtlokal seinen "Platz unter der Sonne".

Mit den Worten "Pablo, dein Werk ist für später" soll ihn sein Verleger Siegfried Unseld über die geringen Auflagezahlen seiner Bücher im deutschen Sprachraum hinwegzutrösten versucht haben, und in der Tat ist es schier unglaublich, ja skandalös, dass ein in so vieler Hinsicht weit über seine Zeitgenossen hinausragender Autor in unseren Breiten nicht mehr und nicht die ihm gebührende Beachtung finden und auf später warten soll.

Kerkerwände der Enge

"Gewaltig" sei sein literarischer "Selbstanspruch", erklärte er einmal Peter Stephan Jungk, und "besonders langsam" arbeite er, um "etwas Reines, (...) nicht Ichblutiges" zu schaffen. Mit solcher Ambition legte Nizon 1963 Canto vor, sein erstes Chef d’Œuvre, das bei Schriftstellerkollegen wie Max Frisch und Elias Canetti größten Anklang fand, und diesem seinem Anspruch ist er in sämtlichen Werken – einschließlich Das Fell der Forelle, dem letzten seiner Romane – treu geblieben, und es ist wohl eben dieser Purismus, der (man denke an Robert Walser, Franz Kafka etc.) seinen Durchbruch bei einer breiten Leserschaft verhindert haben mag.

Aus Anlass seines achtzigsten Geburtstags hat der Suhrkamp-Verlag in einer Quarto-Ausgabe das gesamte literarisches Œuvre des Schriftstellers ediert, nun, acht Jahre später, ist auch ein Teil der kunsttheoretischen Arbeiten Nizons erschienen, des "welthungrigen" Augenmenschen, der seine Heimat verlassen hat, um dem zu entkommen, was er in Ferdinand Hodlers Bildern sah, "die Kerkerwände der Enge", und dem "Lebendigtotsein", gegen das van Gogh sein Leben lang angekämpft hat. Sein Studium, schreibt der promovierte Kunsthistoriker, sei für ihn "die eigentliche Schule des Sehens" gewesen, und "Sehen", das bedeutet für ihn, sich "rauschhaft" der Welt zu bemächtigen.

Etwas von diesem "Rauschhaften", vom "Halluzinatorischen" (das er William Turner zuschreibt) steckt auch im Titel dieser Sammlung von Künstlerporträts: Sehblitz. Es ist eine Wortschöpfung, die Nizon zwei seiner Caprichos aus dem Erzählband Im Bauch des Wals entliehen hat, und um Sehblitze, "Stichflammenmomente", handelt es sich auch, wenn er etwa Giacomettis Plastiken als "Grabbeigaben" bezeichnet und van Goghs Zeichnungen (über die er dissertiert hat) ein "sprachloses Buchstabieren" nennt.

"Beigaben" zur modernen Malerei

Almanach der modernen Kunst lautet der Untertitel zu Nizons Sehblitz. Gemäß dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache kommt Almanach vom arabischen "al manḥ", was ein "mit poetischen Beigaben" versehenes "Neujahrsgeschenk" bezeichnet. Und in der Tat sind Nizons Sehblitze solche "Beigaben" zur modernen Malerei, zu deren Vorläufern Goya, Hodler und Turner, zu ihren Klassikern Jawlensky, Malewitsch, Picasso usf. und ihren Nachfolgern in Übersee, den Pollocks, Rothkos, Warhols.

Und Nizons Skizzen, Porträts und Caprichos sind wahrhaft "Neujahrsgeschenke", denn oft ist es dem Leser, als täte sich durch sie ein Fenster in eine neue Sehzeit und einen neuen Sehraum auf, als erfahre man Chagall oder Rousseau (die man schon dünkelhaft verworfen hatte) mit einem Mal wieder ganz neu, als öffneten einem seine Sehblitze die Augen für bisher vernachlässigte, übergangene bildnerische Größenseziermeister wie Max von Moos, Gipser wie Hans Josephsohn oder Licht-und-Schatten-Künstler wie Norbert Tadeusz.

Sie stehen nun gleichberechtigt neben Jean Miro oder Jean Dubuffet und, um eine Passage aus einem Brief Dürrenmatts an den Autor abzuwandeln, was bei diesen "Bild geworden ist", ist bei ihm, Nizon, "wieder zum Wort" geworden. Und dieses Zum-Wort-Gewordene, sagt Handke, muss man "lesen und wieder- und wiederlesen". (Klaus Hoffer, 22.5.2018)