Angekommen in St. Pölten. Die niederösterreichische Landeshauptstadt will 2024 europäische Kulturhauptstadt werden. Dornbirn, Hohenems, Feldkirch und der Bregenzerwald bewerben sich gemeinsam ebenfalls um den Titel.

Foto: Aron Rosenfeld

Stefanie unterwegs in der Kremser Gasse. "Das ist so etwas wie der Kohlmarkt von St. Pölten", meint Aron.

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Zuflucht vor einem Regen ("Üwagangl") gewähren Stefanie und Aron ein Teppichhändler und sein Vater.

Foto: Stefanie Sargnagel

Der Kulturverein Lames im Sonnenpark bietet auf vier Hektar alternative Veranstaltungsräume...

Foto: Stefanie Sargnagel

...und mehr.

Foto: Aron Rosenfeld

Aron mit einem Gemälde von Kaiser Franz Josef in der Synagoge von St. Pölten. Sie wurde am 17. August, dem Tag vor dessen Geburtstag, 1913 eröffnet.

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Beim Zelt mussten sich Stefanie und Aron zu helfen wissen – mehr dazu im Video.

Foto: Stefanie Sargnagel

Wieder eine Nacht überstanden.

Foto: Stefanie Sargnagel
DER STANDARD
Foto: Aron Rosenfeld

STEFANIE SARGNAGEL: Nach der ersten Nacht in der Fremde wachen wir auf in der urbanen Einstiegsdroge unserer Reise: St Pölten. Wie bei Einstiegsdrogen üblich, wirkt der erste Kontakt harmlos, regt aber schon die Gier nach mehr an. Wir möchten uns in den kommenden Tagen mit Österreich anfüllen und vollstopfen bis wir Spritzwein schwitzen.

Beim ersten Erkundungsspaziergang lernen wir einen pensionierten Polizisten kennen, der uns den Besuch des Kulturvereins Lames im Sonnenpark nahelegt, ein liebevoll gestaltetes vier Hektar großes Grundstück mit alternativen Veranstaltungsräumen. Später wird man uns dort erzählen, dass es sich dabei nur um Alois gehandelt haben kann, den leiwandsten Kiberer Niederösterreichs. Als wir von einem Platzregen überrascht werden, den Alois ortstypisch als "Üwagangl" bezeichnet, nimmt er uns mit in das schützende Geschäft eines Teppichhändlers.

Auf dem Weg zum legendären St. Pöltner Volksfest, das laut Alois immer zahlreiche Polizeieinsätze zur Folge hat (klingt gut), schauen wir noch im Sonnenpark vorbei. Nach einem herzlichen Empfang wird uns dort gleich ein Schlafplatz angeboten, das kommt uns gelegen, da das Zelt, das wir jetzt neu gekauft haben, offenbar nicht funktionstüchtig ist.

Am Gelände findet gerade ein Rapworkshop für Jugendliche zum Thema Ökologie statt (angeleitet von "Chill Ill"). Ich habe hier schon mal eine Lesung gehalten. Meine Mutter und meine niederösterreichische Tante, die vom linksalternativen Lebensstil weit entfernt sind, schauten vorbei und meinten damals positiv überrascht: "Diese ogsandelten Linken san imma so freindlich!" Auch die ständigen Gewaltdrohungen und Vergewaltigungswünsche von vor allem rechten Männern politisieren und radikalisieren die Frauen meiner Familie erfreulicherweise zunehmend nach Links.

Das Volksfest ist aufgrund des Dauerregens schlecht besucht, die Stimmung ist dröge und die Landjugend wirkt verzweifelt, weil sie zwischen Einkaufszentrum und Kreisverkehr auch hier keine Ekstase findet. Die Musiker besingen ihre Liebe zu Kärnten und Tirol. Gibt es denn keine Volksmusik über St. Pölten? Ich fühle mich zurückversetzt in eine Zeit, als man sehnsüchtig den Blick nach Leuten schweifen ließ, die vielleicht auch FM4 mögen und erspähe die ersten einsamen Dorfpunks in der Nirvanaphase. Mein geübtes Auge erkennt in den Jugendgruppen den rührenden Zustand in sich gefangener schwuler Teenager auf ihrem beschwerlichen Weg zum Outing.

Zwei Maurerlehrlinge, die uns um zwei Euro anschnorren, laden uns ein, einen Joint mit ihnen zu rauchen, und schimpfen dabei leidenschaftlich über St. Pölten. Zum Abschied schenke ich ihnen mütterlich zehn Euro und denke mir dabei wie früher meine Oma: "Kafts eich an Tschuglad". Wohlwissend, dass er in billige Mischgetränke oder tschechisches Crystal Meth investiert wird.

Nach zwei vorsichtigen Zügen von ihrer – wie sie es in STP (ES TI PI) ortstypisch nennen, – "Wiesen", sind wir so blattlwach, das wir eine Stunde nicht aus dem Volksfestareal herausfinden, uns aber auch nicht nach dem Weg fragen trauen, weil wir ständig lachen müssen. Das hält uns jung.

Foto: Stefanie Sargnagel

ARON ROSENFELD: Ein persischer Teppichhändler, unter dessen Dach wir Zuflucht finden vor dem prasselnden Regen, erzählt aus seinem Leben: Nach einer Gehirnblutung, die er einleuchtend auf das chinesische Essen vom Vortag zurückzuführen weiß, musste ein Chirurg sein Kleinhirn durch die Schädeldecke absaugen. Seit Beginn der Aufzeichnungen im deutschen Sprachraum ist er der einzige Überlebende dieser seltenen Operation. Von seinem herzallerliebsten Vater bekommen wir Schwarztee, getrocknete Datteln und Ratschläge zum Autostoppen im Iran, wo der ausgestreckte Daumen dieselbe Bedeutung habe wie hierzulande der gespreizte Mittelfinger. Wir behalten das für alle Fälle im Hinterkopf.

Abends geraten wir immer mehr in Volksfeststimmung und machen uns auf den Weg zum örtlichen Veranstaltungsgelände. Im Bus passieren wir einen heruntergekommenen Elektrofachhandel, über dessen offenbar ausländischen Besitzer zwei junge Frauen hinter uns in einer eigensinnigen Mischung aus Abfälligkeit und Zuneigung als vom "Handytschuschen" sprechen.

Endlich angekommen schnorren uns zwei Halbwüchsige vor dem Bierzelt um ein paar Euro an und wollen im Gegenzug einen Joint mit uns rauchen. Wir lehnen ab und Steffi hält ihnen einen ermüdenden Vortrag über Verantwortung und Selbstdisziplin, wie sie das seit Jahren an Brennpunktschulen als Role Model für Problemjugendliche macht.

Am nächsten Tag folgen wir der Sonne nach Westen, um den Mönchen in Melk auf die Finger zu schauen oder das internationale Jagdhornbläsertreffen in Kremsmünster zu crashen. (Stefanie Sargnagel, Aron Rosenfeld, 20.5.2018)