Das Verschleierungsverbot schadet dem Handel, ist Jamal Al-Wazzan überzeugt. "Es ist Hetze, ein reines Politikum."

Foto: Regina Hendrich

Eine 40 Meter lange Glasfassade eröffnet den Blick auf den Graben. Jamal Al-Wazzan verfolgt von seinem Büro in der Wiener Innenstadt aus fast jede Bewegung im Handel. Einst verdiente er seinen Lebensunterhalt mit Knackwürsteln im Fußballstadion. Heute sind mehr als 200 Geschäftslokale in Hand des Immobilienentwicklers mit Wurzeln im Irak. Für Einzelkämpfer sieht er in der City wenige Chancen. Dass ihn viele Österreicher immer noch Ausländer nennen, nimmt er locker.

STANDARD: Waren Sie schon einmal im Kaufrausch?

Al-Wazzan: Ich behaupte, ich habe mich immer unter Kontrolle.

STANDARD: Ihre Welt ist der Einzelhandel. Und es gibt kein Geschäft, in dem Sie schwach werden?

Al-Wazzan: Sicher. Aber da ist der Rausch dann so teuer, dass ich es lieber bleiben lasse. Man kann sich nicht hundert Autos kaufen.

STANDARD: Sie handeln mit Mietrechten für Geschäftslokale. Wiens Innenstadt trägt Ihren Stempel. Was macht eine City charmant?

Al-Wazzan: Gut angezogene Menschen, der Tourismus, schöne teure Geschäfte. Der erste Bezirk ist so geordnet, hübsch eins nach dem anderen. Das gibt es weltweit nicht. Man kann Wien ganz leicht erklären. Früher hatte die Innenstadt für mich sogar einen anderen Geruch. Aber wer hier lebt, stumpft ab. Es ist, als würde man in einer Zuckerbäckerei arbeiten.

STANDARD: Auf dem Weg zu Ihrem Büro bin ich durchs Goldene Quartier und über den Graben flaniert, vorbei an den ewig gleichen Handelsketten, die jede andere Metropole auch bietet. Geht mit Einkaufsmeilen wie diesen nicht das Herz einer Innenstadt verloren?

Al-Wazzan: Sind die Geschäfte das Herz der Innenstadt, dann schlägt das gleiche Herz überall. Aber die Gebäude hier gibt es nicht überall.

STANDARD: Was ist für Sie ein typischer Wiener Händler?

Al-Wazzan: Gibt es ihn noch? Zehn Prozent der Händler sind Alteingesessene, sie sterben aus. Aber ich bin überzeugt, dass das alles wieder kommt. Es dauert ein Leben, zwei Leben, ein halbes. Als ich ein Kind war, gab es noch an jeder Ecke einen Fleischhauer. Heute sind da Supermärkte. Nun fangen ein paar wieder damit an, aber das hat 30, 40 Jahre gedauert. Das Leben ist ein Auf und Ab.

STANDARD: Im ersten Bezirk zahlen Händler im Monat pro Quadratmeter hunderte Euro Miete. Wer außer Juwelieren und internationalen Moderiesen kann sich das leisten?

Al-Wazzan: Einzelkämpfer nicht. Wobei es immer welche mit einer guten Idee gibt. Aber wer will es sich schon leisten? Es ist wie ein Sprung ins tiefe Wasser. Anfangs traut man sich gar nicht rein, dann springt man vom Drei-Meter-, dann vom Zehn-Meter-Brett.

STANDARD: Von einst fünf Buchhandlungen am Graben gibt es nur noch eine.

Al-Wazzan: Das liegt am Onlinehandel. Keiner muss ein Buch angreifen, um es zu kaufen.

STANDARD: Ist Ihnen um die Geschäfte mit Lokalkolorit nicht ein bisserl leid?

Al-Wazzan: Natürlich. Aber die meisten Händler waren doch eh bös und grantig. Ich kannte Leute, die haben hundertmal bitte, danke und auf Wiedersehen gesagt. Aber viele waren es nicht. Es liegt nicht nur an den Mieten. Die Leute wollen heute einfach etwas anderes. Unsere Lebensumstände sind andere.

STANDARD: Eingekauft wird zusehends online, viele stationäre Händler stecken in der Krise. Wie lassen sich teure Standorte da noch rechtfertigen?

Al-Wazzan: Auf der grünen Wiese und in Randlagen nicht, in der Innenstadt schon: Der Handel wird trotz Internets immer einen Showroom brauchen. Es wird immer Läden in der Stadt geben.

Alteingesessene Händler mit Lokalkolorit lassen sich am Wiener Graben an einer Hand abzählen.
Foto: Imago

STANDARD: Würde der verkaufsoffene Sonntag den Wiener Handel stärken?

Al-Wazzan: Nein, aber er stößt ihn auch nicht tiefer. Wem nutzt es? Die Österreicher wollen es nicht, aber die Touristen. Für sie ist es eine Katastrophe, dass sonntags alles zu hat.

STANDARD: Vielleicht fehlt es mir an Fantasie. Aber wie viele Deals sind für Sie noch drinnen? Es gibt in Wien kaum noch Filetstücke, die Sie sich durch hohe Ablösen sichern könnten.

Al-Wazzan: Das sage ich mir selber seit drei Jahren. Müsste ich heute anfangen, hätte ich ein Problem. Das wenige, das es noch gibt, ist richtig teuer. Aber ich bin halt in einer Position, in der mir fünf neue Läden im Jahr auch reichen.

STANDARD: Warum sind viele große Hausbesitzer eigentlich nicht in der Lage, ihre Geschäftsflächen selbst zu managen?

Al-Wazzan: Sie wollen, dass ich mir ins Knie schieße? In Wirklichkeit können viele Menschen nicht mehr miteinander reden. Und dann kommt ein Ausländer daher ...

STANDARD: Sie sind keiner.

Al-Wazzan: Es gibt immer noch genug Leute, die mich als solchen sehen. Ich pflege zu sagen: Halt den Mund, ich bin länger hier als du. Aber letztlich ist es doch wurscht, über so etwas lache ich heute.

"Mein Vater war weitsichtig", sagt Jamal Al-Wazzan: "Im Irak wären wir Kanonenfutter geworden. Mein Jahrgang ist zu 80 Prozent verkrüppelt oder lebt nicht mehr."
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Sie sind in Bagdad geboren, kamen im Alter von vier Jahren nach Wien. Ihre Eltern kehrten in den Irak zurück und ließen Sie und Ihre Geschwister in der Obhut von Klosterschwestern. Haben Sie sich alleingelassen gefühlt?

Al-Wazzan: Ich kann mir nicht vorstellen, meine Kinder zu verlassen. Aber es war eine andere Zeit. Zum einen hat man vor 50 Jahren noch Watschen bekommen. Zum anderen war mein Vater weitsichtig. Er sagte: Der Irak ist nichts für meine Kinder. Wir wären Kanonenfutter geworden. Mein Jahrgang ist zu 80 Prozent verkrüppelt oder lebt nicht mehr. Mein Vater wollte uns Bildung ermöglichen. Aber meine Mutter fühlte sich hier nicht zu Hause. Ich blieb mit meinem jüngeren Bruder zurück. Heute würde ich so etwas nie tun. Damals warst du stolz, dass du es getan hast. Meine Familie und ich sind ewig dankbar dafür. Wir wären sonst Flüchtlinge geworden.

STANDARD: Sie haben muslimische Wurzeln. Was bewog Ihre Eltern dazu, Sie den Schwestern vom Armen Kinde Jesu anzuvertrauen?

Al-Wazzan: Ich komme aus einer schiitischen Familie, Hardcore-Moslems, sehr gläubig. Aber meinem Vater war alles andere wichtiger. Ich wurde von einer griechisch-orthodoxen Frau erzogen, die mit einem tschechischen Juden verheiratet war: Islam, Christentum, Judentum in einem Zimmer. Ich sprach in der Schule am besten Deutsch und war im Religionsunterricht der Beste, ich war jeden Sonntag in der Kirche. Heute habe ich zum lieben Gott ein eigenes Verhältnis.

STANDARD: Darf ich fragen welches?

Al-Wazzan: Ich sage: Es gibt einen Gott, zu allem anderen lasst mich in Ruh. In Wirklichkeit ist Religion ein gutes Geschäft. Die katholische Kirche: 2000 Jahre, nie pleite, immer Spenden, das am besten gehende Unternehmen, Reichtum in Geld nicht auszudrücken. So gehört es sich in einem weltweiten Unternehmen. Und das ist bei Moslems und Juden nicht anders. Jeder soll glauben, woran er will. An meinem Tisch sitzen Juden wie Araber: Respektiert euch! Wollt ihr euch die Köpfe einschlagen, geht woanders hin.

STANDARD: Apropos Religion. Schreckt das Verschleierungsverbot in Österreich Kunden aus dem arabischen Raum ab?

Al-Wazzan: Natürlich. Es ist eine Idiotie. Zeigt man in Österreich mit dem Finger auf sie, gehen sie nach München oder London. Ich verstehe das Verbot nicht, was soll das? Wer trägt Schleier? 30 Österreicherinnen? Da wäre es einfacher, ihnen Polizisten zur Seite zu stellen. Touristen müssen bei der Einreise den Schleier ohnehin öffnen. Es zielt aufs eigene Knie, es ist Hetze, ein reines Politikum.

STANDARD: Sie verdienten den Lebensunterhalt für sich und Ihren Bruder einst mit Würsteln. Wie das?

Al-Wazzan: Ich schau gern Fußball. In der Südstadt sprang ich als 16-Jähriger über die Mauer, weil ich kein Geld fürs Ticket hatte. Ordner schnappten mich, schön peinlich. Am Weg hinaus fragte mich der Herr von der Kantine, ob ich mir was verdienen will. Er gab mir ein Tragerl mit Knackwürsteln, Semmeln und Bier. Das hat uns jeden zweiten Sonntag 4000 Schilling gebracht. Davon lebten wir, neben Jobs im Kino und Altpapiersammeln.

STANDARD: Ihr Vater war doch erfolgreicher Lebensmittelhändler?

Al-Wazzan: Er war sehr wohlhabend, Distributor der Marke Kraft im Irak. Aber er hat mich abgerechnet bis auf 50 Groschen. Er schickte mich zehn Semmeln kaufen, stimmte das Restgeld nicht, nannte er mich einen Dieb. Geld aus dem Irak wurde damals über Amerika nach Europa überwiesen, das dauerte bis zu sechs Monate. Wir hatten zeitweise nichts zu essen.

STANDARD: Sie sind heute an mehr als 200 Geschäftslokalen beteiligt. Warum wurden Sie Unternehmer wie Ihr Vater und nicht Hippie?

Al-Wazzan: Ich wollte nie mehr keinen Cent in der Tasche haben, mir nie mehr Geld für Essen borgen müssen. Der Typ für einen Hippie war ich nicht: Trampen kostete Geld, Rauschgift auch, außerdem hätte ich mich das nie getraut. Ich war ordentlich, hab aufgepasst auf meine Sachen und versucht, sie teuer zu verkaufen.

STANDARD: Wie groß war im Wettlauf um Immobilien in der City die Rivalität zu Ihrem Bruder?

Al-Wazzan: Wir sind gleich gepolt, haben den gleichen Kopf. Es gab schwere Rivalitäten. Das löste sich, weil er nach Salzburg ging. Damit hatte jeder sein eigenes Nest. Heute arbeiten wir zusammen, er hat den Sinn fürs Schöne, ich schau aufs Geld. Das hätten wir vor 20 Jahren nie getan. Einer trieb den anderen vor sich her. Aber das ist der Grund warum ich heute hier sitze: Ohne Bruder wäre der Trieb nach noch mehr nicht so stark gewesen.

STANDARD: Sie sind seit bald 40 Jahren im Geschäft. Wird man des Verhandelns um Geld nicht irgendwann müde?

Al-Wazzan: Du wirst müde. Es ist so. Aber ich bin keiner, der endlos beharrt, suche immer einen Ausweg. Das Schöne: Es wird weniger. Früher habe ich mit bis zu 80 Geschäften im Jahr gehandelt, heute sind es vielleicht fünf.

STANDARD: Warum führen Sie kein eigenes Handelsunternehmen?

Al-Wazzan: Ich hab die Schöps-Standorte, den halben Niedermeyer. Zeitweise hatte ich bis zu 25 Shops mit 150 Leuten. Aber das ist das Problem: 150 Leute. Wissen Sie, wie schwierig das ist? Nicht die Leute zu bekommen. Sondern weil viele nicht wirklich arbeiten wollen, nicht mehr als 20 Stunden. Ich könnte drei, vier Sachen sofort machen. Aber warum soll ich mir das noch antun? Ich verdiene mein Geld anders mit weniger Kopfweh.

(Verena Kainrath, 19.5.2018)