Je stärker Lehrerinnen und Lehrer "am Gängelband von Kompetenzrastern und gesteuerten Anpassungskontrollen" arbeiten müssen, umso schwieriger ist es für sie, den schulischen Herausforderungen wirklich gerecht zu werden, sagt Ursula Frost.

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Vor fast zwanzig Jahren, 1999, unterzeichneten in der italienischen Stadt Bologna 29 europäische Bildungsminister eine Erklärung, deren Ziel ein "europäischer Hochschulraum" war. Studierende, Lehrende und Forschende sollten dank vergleichbarer Studienangebote mobiler, das Studium internationaler, kürzer und arbeitsmarktfähiger werden. Das "Bologna-System" war geboren. Mittlerweile haben sich 48 europäische Länder dem an sich freiwilligen Übereinkommen angeschlossen. Sie müssen unter anderem ihre Studienangebote auf das dreistufige System mit Bachelor, Master und Doktor/PhD samt der "Währung" ECTS (European Credit Transfer and Accumulation System), mit der Studienleistungen in Form von Punkten verrechnet werden, umstellen.

Eine scharfe Kritikerin des Bologna-Systems ist die deutsche Bildungsforscherin Ursula Frost. Hier erklärt sie, was Sie an Bologna stört und welche Auswirkungen dieses Studienregime auf das, was Bildung eigentlich meint, hat. Frost referiert am 30. Mai (17 Uhr, Hörsaal 3D, NIG, Universitätsstraße 7) im Rahmen der von Konrad Paul Liessmann in Kooperation mit dem Standard organisierten Vortragsreihe "Fachdidaktik kontrovers" in Wien über "Enteignung und Verschuldung als schulisches und didaktisches Prinzip".

STANDARD: Sie haben im Zuge einer Reform des Lehrerausbildungsgesetzes in Nordrhein-Westfalen ein "Aussetzen des Bologna-Prozesses" gefordert. Warum?

Frost: Es gibt gute Gründe, das Bologna-Modell zu revidieren. Es hat keines seiner Ziele, wie klare und vergleichbare Studiengänge, Erhöhung der Mobilität, Verringerung der Studienabbrecherzahl, erreicht, eher das Gegenteil ist der Fall. Auch eine bessere Abnahme der Absolventen auf dem Arbeitsmarkt konnte nicht nachgewiesen werden. Das Bologna-Modell ist also gemessen an seinen eigenen Zielen gescheitert. Dazu kommt: Der sogenannte Bologna-Prozess wurde nie demokratisch eingeführt und diskutiert, sondern top-down installiert, von oben verordnet. Er ist rechtlich fragwürdig, weil er das Harmonisierungsverbot der EU missachtet. Und überdies gibt es kein überzeugendes theoretisches pädagogisches Fundament.

STANDARD: Sie gingen ja so weit, dass Sie in einem Begutachtungspapier für den Landtag schrieben, die Bologna-Reform füge "in der praktischen Konsequenz der Volkswirtschaft wie dem Gemeinwohl Schaden zu". In welcher Form?

Frost: Die Steuerung und die Modularisierung des Studiums führen zu einer Quantifizierung und Fragmentarisierung von Bildungsprozessen, die kaum dem angemessen sind, worum es eigentlich gehen sollte: dass Studierende eigenständig zu systematischer Durchdringung komplexer Sachverhalte und kritischer Urteilsbildung finden. Das gesteuerte Studium kann sich im "Abstudieren" vorgegebener Modulraster und im Zweifel im unreflektierten Wiedergeben von Wissensausschnitten nach Testformat erschöpfen und so das, was traditionell Bildung und Wissen hieß, erfolgreich verhindern. Für Berufsfähigkeit und gesellschaftliche Verantwortung wären aber persönliche Auseinandersetzung, belastbares Wissen und kritisches Urteilen auch über das je Vorgegebene hinaus von Bedeutung.

STANDARD: Produziert die Bologna-Struktur also schlechtere Lehrerinnen und Lehrer?

Frost: Zumindest lenkt sie von Respekt und Begeisterung für die Sache ab. Wo man Studienleistungen nach geschätztem Zeitaufwand mit gleichmäßig teilbaren Punktesystemen berechnet und nach Bedarf umrechnet, lassen sich Absurditäten kaum vermeiden. Durch wie viel müssen Studienleistungen teilbar sein? Wie berechnet man Sachverstand pro Stunde? Geht es nicht vielleicht auch schneller? Hinter dem berechnenden Bezug zum Studium treten die Sache und der unberechenbare Bildungsprozess, der sich mit ihr auseinandersetzt, in den Hintergrund. Wer sich aber nicht für eine Sache begeistert und Bildung nicht als ihre unberechenbare – beschwerliche wie bereichernde – subjektive Aneignung begreift, hat auch in der Schule nur teaching and learning to the test zu bieten.

STANDARD: Ein Ziel Ihrer bildungswissenschaftlichen Kritik ist die Kompetenzorientierung in der Schule: "Kompetenz ist als pädagogische Leitkategorie ungeeignet", haben Sie geschrieben. Warum?

Frost: Die Rede von Kompetenzorientierung ist irreführend. Kein Bildungsmodell hat jemals auf die Ausbildung von Können verzichtet. Man denke nur an früher viel ausgeprägtere Schreib- und Stilübungen, Lese- und Rechenübungen usw. Aber als pädagogische Leitkategorie ist Kompetenz ungeeignet, weil damit ein technologisches Menschenbild verbunden ist, das – unter Umgehung der sachlichen und persönlichen Relationen – Schülerinnen und Schüler in standardisierten Steuerungsverfahren auf je bestimmbare Ergebnisse festlegt. Die Sicherung der Ergebnisse erscheint wichtiger als ihre einsichtige Begründung, und das zeigt, dass hier ein gefährlich verkürztes, inhumanes Modell angesetzt ist. Bildung ist mehr als die Akkumulation von Kompetenzen in beliebiger Montierbarkeit von Einzelteilen. Wir brauchen den Umweg über das denkende Subjekt, das Sachen aneignet und Handeln verantwortet.

STANDARD: Sie kritisieren die "weitgehende Politikvergessenheit der Bildung". Meinen Sie damit die Dimension, dass sie auch demokratische Staatsbürger erziehen soll?

Frost: Auf jeden Fall, das betrifft die Schule, gehört aber auch in die Lehrerausbildung. Lehrerinnen und Lehrer leisten ja einen wesentlichen Beitrag zur Demokratisierung bzw. Ermöglichung von Demokratie, indem sie junge Menschen befähigen, individuelle und öffentliche Lebensräume fantasievoll und verantwortlich gestalten zu können. Dazu sind vor allem Artikulationsfähigkeit, eigenständige Reflexion und Denken in Alternativen nötig. Das scheint mir sehr schwierig zu sein, wenn Lehrende wie Lernende zunehmend nur noch Vorgaben erfüllen, Arbeitsanweisungen abarbeiten und Kästchen ausfüllen. Demokratische Wachheit und Wachsamkeit verträgt sich nicht mit blinder Normerfüllung.

STANDARD: In welcher Form hat der Umstieg auf das Bologna-System samt Kompetenzorientierung und Modularisierung auch das Lehrersein oder Lehrerbild verändert?

Frost: Durch die Herrschaft der standardisierten Verfahren wird das Leitbild eines Lehrertypus stillschweigend entsorgt, der nach Fachsystematik unterrichtete und im persönlichen Einstehen für Dinge und Menschen als bildendes Vorbild gelten konnte, der den sozialen Handlungsraum des Unterrichts und des Schullebens nach pädagogischen Gesichtspunkten frei (mit)gestalten konnte. Ersetzt wird diese persönliche Verantwortung durch vorgefertigte Sozialtechnologien, die Schülerinnen und Schüler in ihre Normerfüllung einweisen statt ihr Interesse an der Sache zu wecken und ihr Verhalten wie Regelsysteme steuern statt den Respekt vor dem Anderssein des Anderen durch Vorbild und allmähliche Einsicht aufzubauen.

STANDARD: Das Umfeld, in dem Lehrerinnen und Lehrer heute arbeiten, hat sich sehr verändert, etwa durch multikulturelle Klassen. Sind sie durch das neue Ausbildungsregime dafür gerüstet? Immer mehr Lehrkräfte fordern Support-Professionen in der Schule, weil sie fast nicht mehr zu ihrem Kerngeschäft Unterricht kommen.

Frost: Am Gängelband von Kompetenzrastern und gesteuerten Anpassungskontrollen wird es kaum gelingen, diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Es dürfte auch nicht wirklich helfen, die standardisierten Verfahren durch multiprofessionelle Sozialtechnologie zu erweitern, die demselben Steuerungsmodell zugehört. Vielmehr käme es hier auf die persönliche Erfahrung und Präsenz von Lehrerinnen und Lehrern an, auf ihre Sensibilität für Menschen und pädagogische Situationen, auf Takt und Fantasie, um einen Rahmen zu schaffen, der sachliche Auseinandersetzung möglich macht. Viele Lehrerinnen und Lehrer bringen diese Voraussetzungen mit, werden aber durch die Überforderungen der Steuerungs- und Kontrollmaschinerie an ihrer fachlichen und pädagogischen Arbeit gehindert. (Lisa Nimmervoll, 22.5.2018)