Tratsch verstärkt das Wir-Gefühl und dient der Unterhaltung. Er sagt aber auch viel über die Moralvorstellungen von Gesellschaftsgruppen aus.

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Die Waschweiber, heißt es, haben das Klatschen erfunden. Während sie am Bach mit einem lauten Klatsch die Wäsche auf einen Stein droschen, gab es immer jede Menge zu erzählen: von den schönen Damen in ihren herrlichen Kleidern, aber oft auch von unvorteilhaften Figuren, von rauschenden Festen und ihren Folgen, den hohen Herren, die ihr Hab und Gut verloren haben, und von den Schicksalsgenossinnen, die daraufhin auf die Straße gesetzt wurden.

Daran hat sich bis heute nicht viel geändert: weder an den Themen noch an der Tatsache, dass Menschen gern die Köpfe zusammenstecken, um über abwesende Dritte zu tuscheln. Häufig nichts Gutes. Und doch hat dieses Tuscheln einen positiven Nebeneffekt, sagt die klinische Psychologin und Psychotherapeutin Karoline Verena Greimel: "Psychologisch ist das ein sehr interessantes Thema. Zum einen ist es verpönt, zum anderen tut es jeder, und das sehr gern."

Tratschen hat verschiedene Funktionen: Es stärkt das Wir-Gefühl, dient der Unterhaltung, und es handelt von Themen, die grenzwertig sind. Damit werden normative Linien von Werthaltungen gezogen. Wenn Menschen tratschen, etablieren sie gleichzeitig ihre Position in der Gesellschaft. Was gehört sich? Was nicht? Was wird sozial geahndet? Fremdknutschen auf der Weihnachtsfeier, außereheliche Affären, ungewollte Schwangerschaften, Firmenpleiten, Arbeitslosigkeit.

Gossip als "akustisches Kraulen"

"Hast du schon gehört, dass ...?", fragt der aktive Tratscher. "Was denn?", tuschelt das Gegenüber. Tratschen folgt bestimmten Regeln, sagt die Psychologin: "Erst muss ich mir sicher sein, ob der andere überhaupt auf das Thema anspringt. Wenn der dann sagt: ‚Nein, das ist ja nicht zu fassen!‘, wird der Tratsch berichtet. Dann folgt meist noch die eigene Meinung dazu." Das schafft auf der zwischenmenschlichen Ebene eine große Vertrautheit. Die Tuschelnden rücken näher zusammen, schauen sich noch einmal verschwörerisch um, die Stimmen werden leiser: "Das sag ich jetzt nur dir." Damit bekommt die andere Person einen besonderen Stellenwert – und der Tratscher natürlich auch.

Doch bedient der Klatsch eine Art Urinstinkt? Nein, sagt Josep Call, Direktor des Wolfgang-Köhler-Primatenforschungszentrums in Leipzig. Denn unsere tierischen Vorfahren lassen sich zwar verbale Informationen zukommen, warnen sich gegenseitig vor Gefahren oder weisen ihre Artgenossen auf Futterstellen hin, aber sie richten andere nicht aus. Lieber geben sie sich der Fellpflege hin, einer zärtlichen, vertrauenschaffenden Tätigkeit, bei der sie sich gegenseitig ausgiebig kraulen und Parasiten entfernen sowie ein wohliges Grummeln von sich geben – das sogenannte Grooming. Man fühlt sich nah und verbunden, ähnlich wie beim Plausch mit einem engen Freund.

Robin I. M. Dunbar, Professor für Psychologie an der Universität Liverpool, hat sich ebenfalls mit dem tierischen Grooming beschäftigt. Er glaubt, dass sich die menschliche Sprache "als eine Art akustisches Kraulen entwickelt" hat – und damit das Tratschen. Mehr als ein Drittel der Zeit, die wir miteinander sprechen, widmen wir Themen und Menschen, die gar nicht am selben Ort sind, hat Dunbar erforscht. Er hatte zu wissenschaftlichen Zwecken mit seinem Team Gespräche von Fremden in Einkaufszentren, Zügen und Bars belauscht. Rund 60 Prozent der Gespräche drehten sich um Themen wie Sport, Politik, Technik oder persönliche Angelegenheiten. In der restlichen Gesprächszeit ging es um Klatsch und Tratsch – egal, ob die Belauschten männlich oder weiblich, jung oder alt waren. "Menschen sind von Natur aus geschwätzig", so das Resümee des Psychologen.

Sozialer Kitt

Das gilt aber nicht für alle. "Menschen, die wenig oder gar nicht tratschen, sind häufig Einzelgänger und kaum eingebettet in einen Freundeskreis oder in ein anderes soziales Gefüge. Wer hingegen gut tratschen kann, hat meistens auch eine hohe soziale Kompetenz", sagt Greimel. Was noch wichtig ist: Die Themen müssen interessant genug sein. Auch auf die Dosis kommt es an. Denn wer zu viel tratscht, schadet sich selbst. "Wenn ich immer jemanden abwerten muss, damit ich größer bin, merken die anderen das sehr wohl", betont die klinische Psychologin.

Das Medieninstitut Emnid fand in einer Umfrage mit mehr als 1.000 Probanden heraus, dass in Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern 35 Prozent derer über Nachbarn oder Kollegen lästerten. In den Städten waren es nur 24 Prozent. Medienethiker Alexander Filipovic relativiert das Ergebnis allerdings ein wenig: "Früher war der Tratsch im Dorf der soziale Kitt", sagt der Experte. Die Kleingruppe erklärte, was gut oder böse war, und zeigte, wer wo in der Gesellschaft stand. Heute ist die ganze Welt das Dorf. Und die Klatschpresse hat den Dorfklatsch auf eine professionelle Ebene gehoben und wird damit zur moralischen Instanz.

Wenn Tratsch zum Mobbing wird

Über andere zu lästern ist eine Form der verbalen Aggression. Wenn das Lästern nur noch das Ziel hat, einer anderen Person zu schaden, dann ist die Grenze zum Mobbing überschritten. In solchen Fällen spürt der Betroffene, dass etwas nicht stimmt. Gespräche verstummen, wenn er den Raum betritt – oder es wird getuschelt, gelacht und dann bewusst in die Richtung des Opfers geblickt. Es geht darum, Menschen zu bewerten, zu beleidigen, Karrieren zu zerstören oder das soziale Ansehen innerhalb einer Gruppe zu untergraben. "Wenn alle Menschen wüssten, was die einen über die anderen reden, gäbe es keine vier Freunde auf Erden", formulierte es der französische Philosoph Blaise Pascal bereits Jahrhunderte, bevor es den Begriff Mobbing gab.

Dem Augustinermönch und Reformator Martin Luther waren die Waschweiber übrigens zutiefst suspekt. In seinen Werken wetterte er gegen das "mit dem Maule waschen" und den Katharsis-Effekt, der daraus resultiere: "Beim Betrachten der fremden Schandtaten verschwinden die eigenen ganz schnell im Hintergrund." Auch das hat bis heute seine Gültigkeit. (Anja Pia Eichinger, 23.5.2018)