"Mit allem, was wir tun, von der Verwendung von Hautcremen bis zu Antibiotika, verändern wir unser Mikrobiom", sagt Yasmine Belkaid.

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STANDARD: Ein Video aus Ihrem Labor trägt den Titel "Wenn gute Bakterien böse werden". Ist es wirklich so einfach, bei Mikroorganismen zwischen Gut und Böse zu unterscheiden?

Yasmine Belkaid: Überhaupt nicht! Die meisten Mikroorganismen nützen uns, aber manche Umstände können sie gefährlich machen. Das Mikrobiom spielt eine extrem wichtige Rolle in der Regulation des Immunsystems und des Stoffwechsels. Wenn jemand aber einen Infekt oder eine genetische Veranlagung hat, zum Beispiel bei einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung, können die Mikroorganismen zu Aggressoren werden.

STANDARD: Wie kann sich unser Immunsystem gegen solche Aggressoren wehren?

Belkaid: Das Immunsystem selbst kann gefährliche Organismen nicht wirklich unterscheiden, sondern nur den Ort erkennen, an dem sie sich aufhalten. Unter normalen Umständen verursachen Mikroorganismen auch keine Entzündungen. Das passiert nur, wenn ein Krankheitserreger angreift und eine Verletzung entsteht. Kommt die gleiche Mikrobe dann ins Blut, kann sie dort zum Aggressor werden.

STANDARD: Unsere Mikroorganismen können uns auch verteidigen. Wie funktioniert das?

Belkaid: Indem sie mit den gefährlichen Mikroorganismen um Ressourcen streiten, verhindern sie, dass sich diese ansiedeln können. Gleichzeitig können sie aber auch das Immunsystem anregen, indem sie es sozusagen trainieren und ein wenig reizen, damit es besser auf Infektionen reagiert.

STANDARD: Welche Auswirkungen auf diesen Prozess hat unser modernes Leben, das geprägt ist von übermäßiger Medikation?

Belkaid: Natürlich sind Antibiotika extrem wichtig und retten etliche Leben, aber sie haben gleichzeitig auch enorme Konsequenzen. Die Gefahr ist klar: Wir haben zu viele Antibiotika benutzt, die die Mikrobenvielfalt reduzieren und entzündliche Mikroben stimulieren können.

STANDARD: Die Hygiene-Hypothese, die bereits in den 1980ern von dem Epidemiologen David Strachan formuliert wurde, besagt, dass Kinder öfters von Allergien oder Krankheiten wie Asthma betroffen sind, wenn sie in einer sehr reinlichen Umgebung aufwachsen. Spielt das auch eine Rolle?

Belkaid: Ja, das ist auch Teil des Problems. Es gibt mehrere Erklärungen für die Hygiene-Hypothese: die Art der Infektionen, denen wir ausgesetzt sind und die Veränderungen in unserer Umwelt. Dazu gehört auch die Tatsache, dass wir die normale Diversität unseres Mikrobioms verändert haben. Mit allem, was wir tun, von der Verwendung von Hautcremen bis hin zu Antibiotika, verändern wir die Zusammensetzung der Mikroorganismen, mit denen wir leben. Sie sind Sensoren unseres Verhaltens. Das hat in einkommensstarken Ländern auch zu einer Zunahme von Infektionskrankheiten geführt.

STANDARD: Hat dieser Hygiene-Trend auch mit dem negativen Bild zu tun, das wir von Mikroorganismen haben?

Belkaid: Wir haben vergessen, dass die meisten unserer Zellen eigentlichen Mikrobenzellen sind. Sie sind überall und in der Überzahl – und unsere Partner, wenn es um Gesundheit geht. Das übertriebene Bedürfnis, alles steril zu halten, ist längerfristig schädlich für uns.

STANDARD: Worin liegt die Schwierigkeit, Darmbakterien zu erforschen?

Belkaid: Im Moment steckt unsere Disziplin noch in den Kinderschuhen. Es ist kompliziert, die gesamte Komplexität der Mikroorganismen zu erfassen. Wir müssen einen Großteil erst identifizieren und verstehen, welche Organismen sich wo aufhalten und wie sie interagieren. Im zweiten Schritt müssen wir begreifen, welche Moleküle sie produzieren. Wir versuchen, sie möglichst in ihrem Umfeld zu erforschen. Sie in einer Petrischale zu untersuchen gibt nicht viel Aufschluss darüber, wie sie sich im Menschen verhalten.

STANDARD: Sie untersuchen auch, wie sich Ernährung auf unser Mikrobiom auswirkt. Was wissen wir bisher?

Belkaid: Dass sie von dem, was wir essen, extrem beeinflusst werden. Wir haben Moleküle identifiziert, die auf eine bestimmte Art auf unsere Immunzellen wirken. Und die sind wiederum mit gewissen Mikroorganismen assoziiert.

STANDARD: Wenn wir also unsere Ernährung umstellen ...

Belkaid: ... dann kann das große Auswirkungen auf unser Immunsystem haben. Außerdem gibt es Forschung, die zeigt, wie das Mikrobiom mit Fettleibigkeit zusammenhängt. Da wurden zum Beispiel Mikroorganismen von einer Maus in eine andere transplantiert, und man sah, wie sich ihr Stoffwechsel komplett umstellte.

STANDARD: Auch wenn Ihre Forschung noch am Anfang steht: Man kann jetzt schon Probiotika kaufen, die aus lebenden Mikroorganismen bestehen und unsere Darmflora ergänzen und bereichern sollen. Kann das funktionieren?

Belkaid: Es gibt absolut keinen Zweifel daran, dass Probiotika generell positiv sind, aber wir müssen auf gründliche Studien warten, die zeigen, welche Mikroben Immunität und Metabolismus positiv beeinflussen können. Dazu gehört auch, jeden Menschen in seiner individuellen, genetischen Vielfalt und Ernährungsweise zu verstehen. Wir arbeiten auch an Präbiotika, also Ernährungsergänzungen, die richtige Nährstoffe an Mikroben liefern sollen.

STANDARD: Kann das Teile unseres Antibiotika-Dilemmas lösen?

Belkaid: Es gibt bereits Forschungsgruppen, die Teile des Mikrobioms entnehmen und lagern, bevor Patienten massive Antibiotikatherapien bekommen. Nach der Behandlung setzten sie eigene Mikroorganismen wieder ein. Ich finde das genial, weil viele Patienten nach einer solchen Therapie sehr angreifbar sind und sich leicht infizieren. (Katharina Kropshofer, 23.5.2018)