Der Bundeskanzler spart nicht mit Superlativen. Zum "größten Reformprojekt in der Geschichte Österreich" adelt Sebastian Kurz das Werk der eigenen Regierung und holt historisch weit aus. Schon 1969 habe die Weltgesundheitsorganisation das System der heimischen Sozialversicherung als viel zu komplex kritisiert, "doch die Reform hat niemals stattgefunden". Vizekanzler Heinz-Christian Strache knüpft an: "Die Krankenkassen sind der bestuntersuchte Patient, aber bis dato Therapieverweigerer."

Das soll sich, versprechen ÖVP und FPÖ, schleunigst ändern. Heute, Mittwoch, werden die Regierungsparteien im Ministerrat ihre umstrittene Reform der Sozialversicherung, die Kranken-, Pensions- und Unfallversicherung umfasst, auf Schiene bringen. Den erst einmal nur groben Plänen soll bis Ende Juli ein Gesetzesentwurf folgen, ab kommenden Jahr sollen die Vorhaben dann Realität werden. Nach wir vor hängt viel an noch offenen Details, doch die ersten Pflöcke sind nun eingeschlagen.

KASSENFUSION

Es bleibt bei dem Plan, die bisher 21 Sozialversicherungen auf vier oder fünf zusammenzulegen. Die Versicherungen für Bauern und Unternehmer werden zu einer gemeinsamen für die Selbstständigen fusioniert, jene für Beamte und Eisenbahner zu einer für den öffentlichen Dienst, die Pensionsversicherungsanstalt bleibt bestehen. Die größte Verschmelzung gibt es bei den Arbeitnehmern: Die bisher neun Gebietskrankenkassen werden in einer österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) zusammengelegt, die – Signal an ländliche Gegenden – voraussichtlich nicht in Wien angesiedelt sein wird.

Die zentrale Stelle erhält die Budget- und Personalhoheit und soll auch einen österreichweiten Gesamtvertrag mit den Ärzten ausverhandeln. Allerdings sind auch – und das war den Landesregierungen wichtig – weiterhin Landesstellen vorgesehen, die für die regionale Versorgungsplanung zuständig sind und die Möglichkeit haben sollen, Zu- und Abschläge auf Basis des Gesamtvertrags auszuverhandeln.

EINSPARUNGSWUNSCH

Von der Abschlankung verspricht sich die Regierung bis 2023 eine Einsparung von einer Milliarde Euro – allerdings kumuliert gerechnet: Die pro Jahr jeweils erzielte Einsparung wird addiert. Folglich sollen die rund 19.000 Posten in der Verwaltung in drei Jahren um zehn Prozent reduziert werden, in zehn Jahren dann um 30 Prozent. Gelingen soll dies allein durch nichtnachbesetzte Pensionierungen, als Prinzip soll gelten: Es werde aufgrund der Strukturreformen zu keinen betriebsbedingten Kündigungen kommen.

Die Zahl der Funktionäre soll gleich von derzeit rund 2.000 auf 400 Köpfe sinken. Allerdings erhält die Mehrzahl dieser Leute keine Gehälter, sondern nur Aufwandsentschädigungen. Ist das Sparziel realisitisch? Alexander Biach, Chef des Hauptverbands der Sozialversicherungen, beantwortet diese Frage im STANDARD-Gespräch mit einem Ja, Experte Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS) hingegen bezweifelt das. Der Umbau des Systems koste ja erst einmal Geld, und das Gleiche gelte für ein anderes Vorhaben, wenn die Regierung sich dabei nicht am niedrigstmöglichen Niveau orientieren wolle: die Harmonisierung der Leistungen.

Auch Rechnungshof-Präsidentin Margit Kraker ist "sehr skeptisch", dass die Regierung das angekündigte Einsparungsvolumen von einer Milliarde erreicht. Im ORF-"Report" verwies sie darauf, dass der Verwaltungsaufwand in der gesamten Sozialversicherung bloß bei 750 Millionen liege. Die Zahlen der Regierung seien daher "nur schwer zu glauben." Zudem seien Kostenschätzungen "oft Wunschdenken".

GLEICHE LEISTUNGEN

Vorgesehen ist eine doppelte Harmonisierung: Jeder Krankenversicherte soll für gleiche Beiträge überall in Österreich die gleiche Behandlung bekommen, statt etwa von Ort zu Ort verschiedene Selbstbehalte zu zahlen, für die Ärzte soll es eine einheitliche Abgeltung der Leistungen geben. Da drängt sich die Frage auf, an welchem Niveau sich die einheitliche Regelung orientiert: Soll es immer das höchste Niveau sein, das derzeit in einem der Bundesländer existiert, kostet die Angleichung natürlich Geld.

Bei der Präsentation am Dienstag versichern Kurz und Strache eingangs, dass entgegen "falscher" Unterstellungen keine Leistungskürzungen geplant seien. Auf mehrmalige Nachfrage, ob folglich geplant sei, die Harmonisierung auf dem höchsten Niveau vorzunehmen, kam aber keinem der anwesenden Koalitionspolitiker ein Ja über die Lippen. Das sei Angelegenheit der selbstverwalteten Sozialversicherungen, erklärt ÖVP-Sozialsprecher August Wöginger.

Laut dem Parlamentarier gilt das Harmonisierungsgebot auch nur innerhalb der einzelnen Sozialversicherungen – eine Angleichung der Regelungen etwa von Beamten und Arbeitnehmern sei nicht geplant. Gerade zwischen den einzelnen Berufsgruppen gebe es aber die größten Leistungsunterschiede, sagt Biach und sieht da einen Minuspunkt in den Plänen: "Die Angleichung sollte auch da ein Ziel sein."

MACHTVERSCHIEBUNG

Die "partizipative Selbstverwaltung" der Sozialversicherung bleibe bestehen, steht im Ministerratsvortrag, soll heißen: Geführt werden die Institutionen weiterhin von den Sozialpartnern, die Regierung setzt keine eigenen Vertreter hinein. Allerdings verschieben ÖVP und FPÖ die Gewichte in der Krankenkasse. Bisher hatten die – mehrheitlich sozialdemokratischen – Arbeitnehmervertreter in den einzelnen Vorständen ein Übergewicht von 4:1, während die – überwiegend schwarzen – Arbeitgeber die Kontrollversammlungen dominierten. Künftig soll es in der ÖGK nur mehr einen Verwaltungsrat geben, in dem beide Seiten gleichberechtigt sind – ein Prinzip, wie es laut dem Experten Czypionka auch in Deutschland, Frankreich und Belgien existiert.

Dies bedeute keine Machtverschiebung, argumentiert Wöginger, da würden lediglich Gremien zusammengelegt. Bernhard Achitz, leitender Sekretär des ÖGB, sieht das hingegen ganz anders: "Die Gewerkschaft wird enteignet." Weil ein Vorstand als Führungsorgan viel gewichtiger sei als ein Kontrollgremium, werde natürlich der Einfluss der Arbeitnehmervertreter beschnitten, sagt Achitz und fürchtet, dass die Unternehmervertreter nun auf eine Harmonisierung der Leistungen nach unten drängten.

Sofern die Arbeitnehmer nicht unfair ausgebootet würden, freue er sich über das Bekenntnis zur Selbstverwaltung, sagt hingegen der ÖVP-nahe Hauptverbandschef Biach, sieht aber einen anderen kritischen Punkt, bei dem es ebenso um Einfluss geht: Entgegen den Plänen im Regierungsprogramm sollen die Sozialversicherungen die Beiträge zwar weiterhin selbst einheben, allerdings soll die Prüfung, ob Unternehmen auch genug gezahlt haben, beim Finanzministerium liegen. Dieses überprüfe aber nach einer anderen Methode, die für die Betriebe auf eine weniger strenge Behandlung hinauslaufe, sagt Biach.

SONDERFALL AUVA

Ob es nur vier oder doch fünf Sozialversicherungen gibt, ist noch nicht entschieden: Offiziell droht die Regierung der Allgemeinen Unfallversicherung (AUVA) immer noch mit Zerschlagung, sollte diese nicht massiv einsparen. Allerdings ist im Ministerratsvortrag nun nicht mehr von den geforderten 500 Millionen die Rede, die – wie auch Koalitionäre inoffiziell einräumen – unrealistisch sind. Bis Ende August soll die AUVA Beschlüsse für Einsparungen fassen, heißt es nun unbestimmter, bis Jahresende müssten erste Erfolge sichtbar sein. Biach interpretiert dies "als Bekenntnis zur AUVA zwischen den Zeilen", hinter den Kulissen heißt es: Es werde ein Kompromiss gesucht.

VERLIERER

Die Regierung behauptet nicht, dass sie eine Win-win-Situation geschaffen habe. Verlierer seien die Funktionäre, sagt Kanzler Kurz, man spare eben im System. Die Opposition kommt freilich zu anderen Schlüssen. Die Neos sehen einen "Marketing-Gag", die Liste Pilz warnt vor Leistungskürzungen, die SPÖ sieht einen ganz anderen Superlativ als die Regierung: "Das ist die größte Umfärbeaktion der Zweiten Republik." (Gerald John, 22.5.2017)

Die von der Regierung geplante Reform der Sozialversicherungen soll Einsparungen in Höhe von einer Milliarde Euro bringen.
ORF