Wenn sich im Mai die Feiertage häufen, begibt man sich nach einem langen Winter gerne in Richtung Süden. Da gibt es viel zu sehen, zwischen Wien und Graz, schon alleine die Vielfalt der Lärmschutzwände entlang der Südautobahn wäre Blog-füllend, aber davon ein anderes Mal. Thema diesmal ist das steile Dach.

Steil geneigte Dächer gibt es seit es Häuser gibt. Dächer aus spitz zusammenlaufendem Gebälk bedeckten ländliche wie auch urbane Wohnhäuser bis ins beginnende 20. Jahrhundert, sie gehörten zum einfachen Bauernhaus ebenso wie zur pompösen Villa. Ohne Dach kein Haus, aus bauphysikalischen Gründen ebenso wie aus atmosphärischen. Marc-Antoine Laugier, einer der ersten Architekturtheoretiker, beschrieb 1755 ein simples Konstrukt aus vier Baumstämmen mit einem Gebälk darüber und einem Dach als Urhütte und Ur-Typus schlechthin. Alle Gebäude könnten, so Laugier, durch eine Vervielfachung dieses Typus gebaut werden, das Haus, das Museum, der Palast. Hauptsache, ein Dach ist drauf.

In der Moderne: Das Dach muss weg!

Die bekannten Protagonisten der Moderne (die meisten waren männlich) wetterten nach dem Ersten Weltkrieg gegen vieles, vor allem jedoch gegen das Dach. Sigfried Giedion etwa, in Prag geboren und später in der Schweiz als Architekt arbeitend, argumentiert in "Befreites Wohnen", ein kleines polemisches Büchlein aus dem Jahr 1929, mit der Gefahr von Dachlawinen, die von steil geneigten Dächern ausgehe. Le Corbusier, immer dabei wenn es um das Neue in der Architektur ging, legte mittels prägnanter Zeichnungen dar, wie übel das alte Haus samt Dach sei und wie gut sein neues Haus sein werde.

Es konnte nur verlieren, das alte Haus, in dieser Gegenüberstellung: dicke Wände, kleine Fenster, ein dunkler Keller, unflexible Grundrisse und ein leer stehender Dachboden. Daneben glänzt das neue Haus des Meisters: aufgestelzt auf Pilotis, ein offenes Erdgeschoss, offene Grundrisse, horizontale Fensterbänder, angehängte Fassaden und ein flaches Dach. Mit dem offenen Erdgeschoss war es schwierig, die Natur wächst schlecht unter einer Betonplatte, es zieht, und lebt man nicht in den Tropen, wünscht man sich Wände und Räume. Das Dach jedoch war der Bonus, den man ergatterte, die neue Ebene, das Erholungsterrain und der Garten samt Aussicht für alle.

Skizze nach Le Corbusier: Links das alte Haus (böse), rechts das neue (gut).
Foto: Sabine Pollak

Das oststeirische Satteldach verschwindet

Nichts gegen flache Dächer. Sie können sinnvoll sein, etwa in der Stadt, wo Freiraum rar ist und begrünte Dächer das Klima verbessern, auch wenn meist nur wenige Bewohnende in den Genuss einer Dachterrasse kommen. Aber am Land? Warum muss man im oststeirischen Hügelland die Dächer weglassen? Unten der Garten, dazwischen der Balkon und obendrauf ein Deckel. Sobald man Wien verlassen hat und in Richtung Süden fährt, werden die Dächer rar. In der Oststeiermark schließlich wird es eklatant. Dort, wo ein scharf geschnittenes, steiles Dach seit jeher zur bewährten Bauform gehört, greifen nun Allerweltskisten, bemalt in allen nur denkbaren Farben um sich. Grellgelb ist schon seit Jahren hoch im Kurs, auch grün und orange.

Das oststeirische Satteldach war nie ein gleichmäßiges, sondern wurde immer auf die Lage abgestimmt. An der Wetterseite wurde es über das Haus drübergezogen, an den anderen Seiten bildeten Baukörper und Dach eine scharfe Linie ohne Vorsprung. Häuser, die vor Jahrhunderten gebaut wurden, stehen so immer noch gut behütet in der Landschaft, gedrückte Volumina in Holz und Stein, mit einem hohen Dach, gedeckt mit Biberschwanzziegeln.

Das oststeirische Dach: steil, zart, elegant.
Foto: Sabine Pollak

Krüppelwalmdächer – fast noch schlimmer

Es gibt dort auch neue Häuser mit steileren Dächern, die haben jedoch nichts mit dem südoststeirischen Steildach zu tun. Das ist fast noch schlimmer als ein Flachdach: Krüppelwalmdächer, am besten noch mit Gaupen bestückt. Technisch ist alles machbar heute und wenn sich der Wohnbau verdichtet, macht das flache Dach auch am Land durchaus Sinn. Aber warum setzt sich heute (fast) niemand mehr konzeptionell mit dem Steildach auseinander?

Krüppelwalmdäche mit Gaupen? Dann lieber gar kein Dach!
Foto: Sabine Pollak
8-House in Kopenhagen von BIG, ein innovativer Umgang mit (sehr) steilem Dach.
Foto: Sabine Pollak
8-House: Abtreppungen, Terrassen und ein Wanderweg über das Haus.
Foto: Sabine Pollak

Keller und Dachspeicher, Orte zum Träumen

Das schönste Argument für ein steiles Dach fand der französische Philosoph Gaston Bachelard in seinem Buch Poetik des Raumes (1957). Zu einem richtigen Haus (das Haus der Kindheit, das Haus im Traum) gehöre, so Bachelard, ein dunkler Keller und ein heller Speicher am Dach, verbunden durch eine Treppe, die in der Erinnerung in den Keller immer hinab führe und in den Speicher immer hinauf. Nichts eigne sich besser zum Träumen als der warme, trockene Raum unter dem Dach.

Speicherräume unter dem Dach sind pyramidal, dunkel und warm und eignen sich bestens zum Träumen.
Foto: Roland Köb

Den neuen flachen Kisten fehlt also nicht nur in ästhetischer Sicht etwas. Ein Keller ist praktisch und auch durchlüftete Dachräume haben ihre Vorteile. Man kann weiterbauen, wenn es zu eng wird, oder Dinge verstauen, die man lieber nicht in einen Keller stellt. Und vor allem kann man, wenn es unten zu eng wird, unter das pyramidale Gebälk gehen und meditieren. Die flache Box entspringt der Ökonomie und ein nicht genutzter Raum unter einem Steildach würde heute mit Verschwendung assoziiert. Schade, sie tun der südoststeirischen Landschaft nicht gut, die Klötze, und unserer Verfasstheit im Wohnen wahrscheinlich auch nicht. (Sabine Pollak, 29.5.2018)

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