Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: family lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

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Frage

Wir sind eine vierköpfige Familie mit einer Tochter von acht Jahren und einem Sohn, der im Herbst in die Schule kommt. Wie viele andere Geschwister sind unsere Kinder sehr unterschiedlich, auch was ihre Beziehung zu Mama und Papa betrifft.

Unsere Tochter ist sehr gesellig und übernachtet gern bei Verwandten. Sie hat auch immer viel Spaß bei Geburtstagsfesten und mit ihren Freundinnen und Freunden. Dass wir Eltern auch mal am Abend gemeinsam weg waren, war für sie nie ein Problem. Sie hatte sich schon sehr früh an Babysitter gewöhnt. Seit ihrem ersten Tag im Kindergarten fühlte sie sich sicher in der Umgebung von anderen.

Loslassen fällt schwer

Unser Sohn hingegen ist ein einziger Widerspruch. Im Kindergarten dauerte es sehr lange, bis er sich eingewöhnen konnte. Meist hat er beim Abschied in der Früh lange geweint. Im Laufe der Zeit wurde es besser. Dennoch würde er nie allein zu einer Geburtstagsfeier gehen. Wir müssen zu Beginn immer dabei sein, allerdings bleibt er danach allein und strahlt, wenn wir ihn abholen. Unser Sohn will keine Freunde besuchen, ohne dass wir mit dabei sind. Er will auch nicht bei Verwandten übernachten, auch wenn er weiß, dass wir ihn natürlich auch in der Nacht abholen würden.

Dadurch können wir Eltern viel weniger Zeit allein miteinander verbringen. Das macht uns etwas mürbe. Wir möchten nicht, dass es so weitergeht. Gleichzeitig wollen wir natürlich unseren Sohn bestmöglich begleiten. Wir sind schon etwas besorgt über den Schulstart, weil er dort auch keinen Freund hat, der mit ihm zur Schule geht. Wir möchten einfach wissen, was für unseren Sohn das Beste ist und vor allem wie wir mit der Situation am besten umgehen können.

Antwort

Da ich Ihre Familie nicht persönlich kenne, kann ich nur schwer etwas Konkretes über die möglicherweise soziale Angst, die Ihre Beschreibung etwas erahnen lässt, sagen. Erfahrungsgemäß haben Familien, die von einer ähnlichen wie von Ihnen beschriebenen Angst, Zurückhaltung und Unsicherheit betroffen waren, signifikante Verbesserung erfahren, nachdem sie als ganze Familie ein bis zwei Gespräche bei einem Familientherapeuten hatten. Es ist, als ob die konstruktive Beschäftigung der Familie mit den Schwierigkeiten des Kindes von großer Bedeutung ist, ohne dass eine der Parteien wirklich etwas Neues entdeckt, ihre Einstellung oder Strategie ändert.

Auf den Grund gehen

Oft werden wir neugierig und wollen der Ursache unserer Symptome oder Störungen auf den Grund gehen, obwohl es selten hilft, wenn wir glauben, sie gefunden zu haben. Dennoch sind hier einige Fragen für Sie, die vielleicht zum Nachdenken anregen:

• Hat einer von Ihnen Erwachsenen etwas Ähnliches wie Ihr Kind oder vielleicht nur eine Erfahrung sozialer Unbequemlichkeit erlebt? Vielleicht eine Erfahrung im sozialen Kontext mit vielen und fremden Menschen. Wenn das der Fall ist, ist es wichtig, dass der Erwachsene seine Erfahrungen, Gedanken, Gefühle und Strategien mit dem Buben teilt.

• Könnte Ihr Sohn Momente von sogenannter Trennungsangst, als er noch ziemlich klein war, erlebt haben? Minuten, in denen niemand auf sein Weinen gehört oder reagiert hat? Episoden, in denen Papa oder Mutter ihn einfach verlassen mussten, während er allein zurückgelassen wurde?

• War er in einem frühen Stadium seines Lebens wütend und unsicher und signalisierte Ihnen, dass er Sie braucht, um die Erfahrung der Einsamkeit zu dämpfen?

• Gab es eine (versteckte oder offene) Krise in Ihren Beziehungen, die dazu hätte führen können, dass Ihr Sohn, als er klein war, wütend wurde und dabei das Gefühl hatte, dass Sie zu Hause bleiben müssen.

Eigene Bedürfnisse und Grenzen

Wie gesagt, unsere Theorien über den Ursprung des Problems sagen uns nur selten, was wir tun müssen, um es zu lösen. In der Erfahrungswelt Ihres Sohnes gibt es eine Reihe von Erfahrungen, auf die er und Sie aufbauen können. Es gibt sowohl die Angst als auch die Unwilligkeit einer Trennung gegenüber, aber auch die positive Erfahrung, dass es möglich ist, auch ohne Sie gut mit anderen auszukommen.

Anstatt die ganze Energie auf das Problem des Kindes zu konzentrieren, ist es oft eine bessere Idee, dass sich Erwachsene zuallererst um ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen kümmern. In Ihrem Fall fällt das Bedürfnis darunter, öfter allein zusammen auszugehen, wie Sie es schon mal getan haben.

Sagen Sie ihm: "Wir möchten heute Abend ausgehen. Es wird eine Babysitterin kommen. Ich weiß, dass du es nicht magst, aber wir müssen auch manchmal Zeit als Eltern alleine ohne Kinder verbringen." Hören Sie auf seine Proteste, aber gehen Sie aus. Sagen Sie dem Babysitter, dass er traurig, vielleicht auch sehr traurig sein wird. Nach ein paar Mal wird es für beide Seiten einfacher.

Empathische Fürsorge statt Angst

Vielleicht inspiriert Sie der Gedanke, dass Sie sogenannte "Probleme" nicht durch Behandlung, sondern durch Lernprozesse ersetzen können. An Ihrer Stelle möchte ich Gespräche mit einem erfahrenen Familienberater anregen. Wichtig dabei ist, dass alle dabei sein sollten. In diesen Gesprächen können Sie als Eltern auch über Ihre Gedanken zum Schulstart sprechen. Drücken Sie dabei nicht Angst oder Unsicherheit aus, sondern vielmehr empathische Fürsorge.

Dadurch kann Ihr Sohn einige Monate lang für den großen Übergang reifen. Die Prozesse, in denen diese Art von Gesprächen stattfinden, sind oft nonverbal und teilweise unbewusst. Also seien Sie vorsichtig, wenn Sie zu zielgerichtet sind. In der Zwischenzeit können Sie nach Ihrem Bauchgefühl handeln, das bisher ein guter Ratgeber war. Stellen Sie sich dennoch darauf ein, dass die Veränderung nicht ohne Weinen vonstatten gehen wird. (Jesper Juul, 27.5.2018)