Werden die Schüler aggressiver? Eine Statistik des Innenministeriums legt das nahe – doch so einfach ist die Antwort nicht.

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Frage: Was genau zeigt die Statistik des Innenministeriums zum Thema Gewalt an Wiener Schulen?

Antwort: Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) listet für die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage eine nach Bundesländern gegliederte Anzeigenstatistik auf. In den meisten Fällen geht es dabei um Körperverletzung oder gefährliche Drohung. In Wien wurde Ersteres im Vorjahr 303-mal zur Anzeige gebracht.

Frage: Sind die Zahlen aus dem BMI wirklich so alarmierend?

Antwort: Anzeigen wegen Gewalt in Bildungseinrichtungen werden erst seit 2013 statistisch erfasst – damals übrigens nur von vier Bundesländern. Aber auch 2014 war die Statistik noch wenig aussagekräftig, heißt es aus dem Ministerium. Mit den 23 Fällen von Körperverletzung, die damals zur Anzeige gebracht wurden, ist die heutige Statistik also nicht vergleichbar – ein Anstieg von 1.200 Prozent, wie etwa in der "Kronen Zeitung" behauptet, ist also haltlos.

Frage: Lässt sich Gewalt an Schulen auf Basis von Anzeigen überhaupt ausreichend analysieren?

Antwort: "Ein Anstieg der Anzeigen muss nicht mit einem tatsächlichen Anstieg (von Gewalttaten, Anm.) einhergehen", warnt Susanne Vogl, Soziologin an der Universität Wien. Außerdem verändere sich die "Gewaltdefinition über die Zeit und ist kulturell bedingt". Auch bestimmte Sensibilisierungsmaßnahmen würden zu einer anderen Wahrnehmung oder zu einer eventuell höheren Anzeigebereitschaft führen. Das heißt: Es ist nicht zwingend von einer erhöhten Zahl der Anzeigen auf eine Zunahme von Gewalt zu schließen. Vogl verweist auf Deutschland: "Die deutsche Schulgewaltforschung suggeriert – im Gegensatz zur öffentlichen Debatte –, dass Schulgewalt seit den 80er-Jahren relativ konstant ist." Um Licht ins Dunkel jener Gewaltaufkommen, die nicht in einer Statistik auftauchen, zu bekommen, brauche es eigene Studien. Damit meint die Soziologin keine amtlichen Statistiken über Verurteilungen oder Anzeigen, sondern zum Beispiel Befragungen – von Tätern wie Opfern, aber auch Experten.

Frage: Was sagen die Praktiker des schulpsychologischen Dienstes?

Antwort: "Aus meiner Sicht gab es in den letzten ein, zwei Jahren keine Steigerung", erklärt Georg Koenne, Geschäftsführer vom Österreichischen Zentrum für psychologische Gesundheitsförderung im Schulbereich (ÖZPGS). Der Verein hat derzeit 48 Psychologinnen und Psychologen zusätzlich zu den circa 200 im Bundesdienst aktiven im Einsatz: "Unser Monitoring zeigt das auch nicht."

Frage: Also alles halb so schlimm?

Antwort: Nein. Bildungspsychologin Christiane Spiel von der Universität Wien, die vor Jahren die nationale Gewaltstrategie für die damalige Regierung ausgearbeitet hat, glaubt trotzdem, dass die genannten Zahlen "nur die Spitze des Eisbergs" sind. Diverse WHO-Studien würden zeigen, dass Mobbing an Österreichs Schulen ein überdurchschnittlich häufiges Phänomen ist. Auch eine Pisa-Sonderauswertung kam 2009 zu "alarmierenden" Ergebnissen: Jeder vierte männliche 15-Jährige gab damals an, innerhalb eines halben Jahres mindestens zweimal pro Monat von seinen Mitschülern geschlagen, geschubst, gestoßen oder getreten worden zu sein. Gewalt an Schulen sei nichts Neues, aber: "Es gibt sicher eine neue Dimension", sagt auch Heinrich Himmer, Präsident des Wiener Stadtschulrats – entstanden durch soziale Probleme, aber auch deshalb, weil viele Eltern mit der Erziehung überfordert seien.

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Frage: Ist das ein urbanes Problem?

Antwort: Die Rahmenbedingungen für einen gewaltfreien Unterricht sind in einer Großstadt wie Wien sicherlich schwieriger. Um die Größenordnung zu zeigen: In 702 Wiener Schulen unterrichten rund 25.000 Lehrkräfte 225.000 Schülerinnen und Schüler. Fast überall werden die Klassenschülerhöchstzahlen erreicht, auch die Zusammensetzung der Schülerpopulation ist bunter. In Wien handhabt auch jeder Schulstandort das Problem anders. "Bei vielen Lehrern herrscht eine gewisse Unsicherheit, was zu tun ist", sagt Himmer. Ein Leitfaden, der gerade entwickelt wird, "soll klare, einheitliche Spielregeln bringen".

Frage: Tatsächlich sticht Wien mit 303 Anzeigen hervor. Reicht da ein Leitfaden?

Antwort: Nein. Der Stadtschulratspräsident will herausfinden, ob das bestimmte Schultypen betreffe und welche Gruppen betroffen seien – und: "Was wurde aus den Anzeigen? Gab es Verurteilungen?" Das soll bis Herbst erhoben werden. Parallel tagt ab Anfang Juni eine Arbeitsgruppe, um konkrete Maßnahmen auszuarbeiten. Vorstellbar sind für Himmer Änderungen beim Schulausschluss, der momentan für vier Wochen ausgesprochen werden kann. Er könnte an verpflichtende Gespräche mit Schulpsychologen gekoppelt werden. Oder der Schüler muss ein Antiaggressionstraining besuchen. Besprochen werde auch eine bessere Vernetzung mit der Polizei.

Frage: Aber was sind die Auslöser für derartige Gewalthandlungen?

Antwort: Bildungspsychologin Spiel nennt drei Faktoren, die hier eine Rolle spielen: Die individuelle Ebene, den Einflussfaktor Klasse (Damit ist das Verhalten der Mitschüler gemeint: Schauen sie weg, mischen sie sich ein?) und das Verhalten der Lehrkraft. Verfügt ein Lehrer etwa über ein gutes Klassenmanagement und legt er wert auf Pünktlichkeit und Ordnung, könne das mithelfen, Gewaltsituationen zu verhindern.

Frage: Kommt es vermehrt zu interkulturellen Konflikten?

Antwort: Ältere Studien konnten das nicht bestätigen – allerdings könne sich das mittlerweile geändert haben, gibt Expertin Spiel zu bedenken. Was nach wie vor gilt: Wenn es zu rassistischem Mobbing kommt, dann eskaliert die Situation deutlich häufiger als beispielsweise bei persönlichen Beleidigungen. "Es passiert viel, das sich dann auch auf gewaltvolle Art entladen kann", sagt ÖZPGS-Geschäftsführer Koenne. Es können Freundschaften zerbrechen, Liebeskummer oder Rangordnungskämpfe können aufkommen, zählt er auf. Und: "Klar gibt es auch rein ethnische Konflikte. Aber ich würde nicht sagen, dass diese den Hauptteil von Gewalt und Mobbing ausmachen." Gewerkschafter Thomas Krebs erklärte dazu im ORF-Radio: "Natürlich gibt es ethnische Konflikte, die in die Schule hineingetragen werden. Das zu leugnen wäre naiv."

Frage: Wie ist man bisher gegen Gewalttätigkeit an Schulen vorgegangen?

Antwort: Bereits 2013 war die von der damaligen Regierung in Auftrag gegebene nationale Gewaltstrategie bereit für den flächendeckenden Einsatz – dazu ist es aber nie gekommen. Im Bildungsministerium will man das anders sehen und verweist auf "viele Einzelmaßnahmen" oder Präventionsprogramme wie "Weiße Feder" und "Faustlos". Das Problem: "Die Bekämpfung des Gewaltproblems dauert", sagt Expertin Spiel. Auch Koennes Verein setzt vor allem auf Präventionsarbeit, wobei es dabei "immer einen systemischen Ansatz" brauche. Was das konkret bedeutet? Beispiel Mobbing: Hier müsse gefragt werden: Wer ist der Täter? Das Opfer? Wer Zuschauer? "Tritt Mobbing auf, kann sich niemand wegschleichen, alle sind beteiligt, auch die, die wegschauen."

Frage: Alle wollen mehr Schulpsychologen. Wie viele von ihnen gibt es, und warum sind es nicht mehr?

Antwort: Zusätzlich zu den 48 Experten des ausgegliederten Vereins sind circa 200 Psychologinnen und Psychologen im Bundesdienst im Einsatz. Dazu kommen noch andere Helfer. Beispiel Wien: Durch den Integrationstopf des Bildungsministeriums gibt es derzeit unter anderem noch 43 Schulsozialarbeiterinnen, 125 Personen für begleitende integrative Maßnahmen sowie sechs mobile interkulturelle Teams. Reicht die Zahl an Schulpsychologen aus? Gehe es darum, sonderpädagogischen Bedarf festzustellen oder die Einschulung zu begleiten, dann sei die Zahl derzeit ausreichend, sagt Koenne. Weite man das Themenfeld auf Gewaltprävention oder soziales Lernen aus, brauchte es mehr Personal.

Frage: Gibt es nicht bisher schon die Möglichkeit, gewaltbereite Kinder zumindest teilweise aus dem Unterricht herauszuholen – in sogenannten Time-out-Klassen?

Antwort: In Wien gibt es rund 50 solcher Klassen. Im Stadtschulrat betont man aber, dass sich "Auffälligkeiten" im Verhalten der Kinder hier nicht auf "Gewalttätigkeiten" reduziert, sondern verschiedenste Ursachen haben kann.

Frage: Welche Maßnahmen will der Bildungsminister setzen?

Antwort: Heinz Faßmann (ÖVP) will bis Herbst gemeinsam mit den regionalen Bildungsbehörden eine "umfassende Erhebung zu Übergriffen und Konflikten an Schulen" durchführen. Die Präventionsarbeit solle ausgebaut werden, "Hausordnungen" sollen mehr Verbindlichkeit erhalten. "Mein Ziel ist die flächendeckende Ausrollung der derzeit freiwillig erstellten Verhaltensvereinbarungen an allen Schulen mit der Vorgabe von standardisierten Prozessen durch das Ministerium", sagt Faßmann. Sein Bestreben: "Im Anlassfall sollen damit Sozialdienste im Sinne einer vertretbaren und angemessenen Wiedergutmachung generell ermöglicht werden."

Frage: An welche Sozialdienste wird gedacht?

Antwort: Die Tätigkeit soll in Zusammenhang mit dem stehen, was verursacht wurde. Nach dem Motto: Tue Gutes für die Gemeinschaft statt bestraft zu werden. (Frage und Antwort: Peter Mayr und Karin Riss, 25.5.2018)