Biochemiker Helmut Burtscher von der Umweltorganisation Global 2000 dokumentierte Fälle von Abdrift von Pestiziden. Eine zentrale Meldestelle fehlt jedoch in Österreich, kritisiert er.

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In einem Kärntner Ort wiederholte sich folgendes Szenario mehrere Jahre: Bei Schönwetter rückte der Friedhofsgärtner dem Unkraut mit dem Breitbandherbizid Glyphosat zu Leibe. Das löste bei mehreren Bewohnern des unmittelbar angrenzenden Wohnhauses zeitgleich Beschwerden wie Augenbrennen, Atemwegsreizungen, Schwindel, Bläschen am Gaumen oder Ausschläge aus. Eine Anrainerin erkrankte am Non-Hodgkin-Lymphom, einer Form von Lymphdrüsenkrebs, die von der WHO-Krebsforschungsagentur unter anderen mit Glyphosat in Zusammenhang gebracht wird.

Biochemiker Helmut Burtscher von der Umweltorganisation Global 2000 wurde über den ORF auf diesen Fall aufmerksam. Es ist eines jener 13 Fallbeispiele, die er nun in seinem neuen Bericht "Vom Winde verweht" über Pestizidabdrift dokumentierte. Der 45-seitige Report entstand im Rahmen des ORF-Schwerpunkts "Mutter Erde braucht dich" und liegt dem STANDARD vor.

"Bei einer verzögerten Auswirkung, wie beispielsweise Krebs, ist die Beweisführung ungleich schwieriger als bei unmittelbaren Symptomen", sagt Burtscher dem STANDARD. Niemand könne mit Sicherheit sagen, dass der Krebs durch die Pestizide verursacht wurde, da eine systematische Erfassung der Fälle in Österreich fehle. Meisten wissen Betroffene nicht einmal, welche Substanzen eingesetzt wurden und welchen Mengen sie ausgesetzt waren.

Die Frage ist auch, ob Pestizide, die zugelassen sind, überhaupt solche Symptome verursachen können. Das europäische Pestizidgesetz basiert eigentlich auf dem Vorsorgeprinzip. "Das Gesetz sagt, Pestizide dürfen nur dann zugelassen werden, wenn sichergestellt wurde, dass es bei 'bestimmungsgemäßer Anwendung' keine sofortigen und keine verzögerten gesundheitsschädliche Auswirkungen hat", sagt Burtscher. Die Frage sei aber, ob die Realität diesem gesetzlichen Anspruch gerecht wird und vorausgesetzt werden kann, dass die Anwendung immer fachkundig erfolgt.

Systematische Dokumentation fehlt

Bei den Fallbeispielen im Report handle es sich nur um eine kleine Auswahl: Hunderte Menschen hätten sich in den vergangenen Jahren nach gesundheitlichen, wirtschaftlichen oder ökologischen Schäden an Global 2000 gewandt. "Husten, rauer Hals, Schwindel – es bleibt einem die Luft im Halse stecken", schildert eine Frau im Mostviertel. "Nach der Gartenarbeit stinken meine Hände nach Spritzmittel, und auch das Fell der Katzen stinkt danach", beschreibt es eine Mutter von zwei Kindern aus der Oststeiermark. Sie berichtet weiters, dass viele Leute im Ort um die 50 Jahre an Krebs erkranken würden. Darunter viele Obstbauern.

Es gebe keine repräsentative Untersuchung, wie groß das Problem von Abdrift in Österreich ist, so Burtscher. Er fordert daher eine zentrale Erfassung, etwa bei der Österreichischen Agentur für Lebensmittelsicherheit (Ages). "Dazu braucht es auch ein Budget", ergänzt er. Von der Politik werde das Thema bislang nicht angesprochen.

Worüber in Österreich ebenfalls wenig gesprochen werde, so Burtscher, seien mögliche Gesundheitsrisiken für Bauern. In Frankreich wird seit 2012 Morbus Parkinson bei Menschen, die beruflich mit Pestiziden arbeiten, als Berufskrankheit geführt. "Es ist wichtig darüber zu reden, wer Täter und wer Opfer ist", sagt der Biochemiker. Nicht selten fühlten sich Anwender bei Beschwerden in eine Täterrolle gedrängt, was zu einer Abwehrhaltung führt. Probleme würden so aber selten gelöst: "Landwirte sind nicht Täter. Sie handeln so, wie es ihnen der Gesetzgeber erlaubt und die Wirtschaftslage gebietet."

4000 Tonnen Pestizide

Jedes Jahr werden laut "Grünem Bericht" des Landwirtschaftsministeriums rund 4.000 Tonnen Pestizide verkauft. Sie können vom Wind verweht oder vom Regen aus dem Boden ausgewaschen werden. Ein bis zwei Tage nach der Spritzung kann der Wirkstoff verdunsten und weite Strecken zurücklegen, bevor er durch Abkühlung wieder kondensiert.

Burtscher berichtet, dass Pestizide daher im alpinen Gletschereis oder am Himalaja nachgewiesen werden konnten. Dass die Pestizide dorthin wandern, wo sie überhaupt nichts zu suchen haben, zeigt auch eine Untersuchung von Grasproben in 71 zufällig ausgewählten Kinderspielplätzen in Südtirol von 2017: 29 war mit Pestiziden belastet.

Die Anrainer des Kärntner Friedhofs warteten übrigens vier Jahre, bis das Gift weg war. "Vor zwei Jahren starb der Pfarrer an Krebs. Unter dem neuen Pfarrer wurde nicht mehr gespritzt. Seither geht es uns besser", berichtete Pensionistin Isolde M. (Julia Schilly, 29.5.2018)