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Im Oppositionslager geeint, aber doch Rivalen: Tayyip Erdogan versucht die Konkurrenz zwischen Meral Aksener und Muharrem İnce für sich zu nutzen.

Foto: AP / Burhan Szbilici

100.000 Lira kostet Muharrem İnce, dem Präsidentenkandidaten der größten türkischen Oppositionspartei, möglicherweise eine seiner jüngsten Behauptungen im laufenden Wahlkampf. Auf diese Summe hat ihn Amtsinhaber Tayyip Erdoğan wegen Verleumdung verklagt.

Einen Trost hat İnce für seine offenbar wenig überlegte Äußerung: Beim derzeitigen Kurs der Lira sind dies keine 20.000 Euro, und kommt es zur Verurteilung, zahlt sowieso die Republikanische Volkspartei aus ihrer Kriegskasse. Doch der Vorfall scheint aber symptomatisch für die Schwächen der türkischen Oppositionskandidaten im Kampf gegen den übermächtigen Erdoğan.

Angebliche Reise zu Gülen

İnce hatte dieser Tage in einem Fernsehinterview behauptet, Erdoğan sei im Mai 2000 nach Pennsylvania zum Prediger Fethullah Gülen gefahren und habe ihn um Erlaubnis für die Gründung der konservativ-islamischen Partei AKP gebeten. Ein Mitreisender Erdoğans habe ihm das gesagt, erklärte İnce, und dessen Namen werde er nennen, sobald er zum Präsidenten gewählt sei.

So lange mussten die Türken dann nicht warten. Mitte der Woche kam heraus, dass İnce das alte Büchlein eines Journalisten gelesen hat. Dort stand etwas von der angeblichen Reise Erdoğans zu Gülen in den USA, dem langjährigen politischen Verbündeten des Präsidenten und heutigen Staatsfeind Nummer eins. Er habe auch nur Gerüchte wiedergegeben, verteidigte sich nun der Autor, Nasuhi Güngör, ein ehemaliger Nachrichtenchef beim türkischen Staatssender TRT. Die ganze Sache mit Erdoğans angeblicher Reise zu Gülen sei gegenstandslos.

Seite 89

Blamabel fand dies alles der Präsidentenkandidat der Kemalisten nicht. İnce schwenkte das Buch am Mittwoch bei Wahlkampfauftritten in Zentralanatolien als angeblichen Beweis für seine Behauptung. Auf Seite 89 stünde alles, erklärte er. Und weitere Informationen werde er dem Gericht übermitteln.

Erdoğan fürchtet Muharrem İnce weniger als Meral Aksener. Er möchte ihn daher zu seinem Hauptgegner aufbauen.
BBC News Türkçe

Knapp drei Wochen vor den vorgezogenen Präsidenten- und Parlamentswahlen in der Türkei versucht der türkische Staatschef seine Herausforderer gegeneinander auszuspielen. Erdoğans Strategie ist – so zeigt sich -, den oft großsprecherischen Kandidaten Muharrem İnce zu seinem Hauptgegner zu machen. Erdoğan antwortet bei Wahlkampfkundgebungen nur auf İnces Anwürfe. Die für ihn potenziell gefährlichere Kandidatin der neuen rechten Iyi Parti, Meral Akşener, drängt er dafür in den Hintergrund.

Akşeners Chancen

Das führt zu Rivalitäten im gerade geeinten Oppositionslager. Sie habe in einer Stichwahl die besseren Chancen gegen Erdoğan, erklärte Akşener, aufgebracht über das sinkende Interesse der türkischen Medien an ihrer Person. Alle Umfragen zeigten, dass Muharrem İnce dagegen in einer zweiten Wahlrunde für das Präsidentenamt am 8. Juli verlöre, so argumentiert sie.

İnce, ein rechts stehender Kemalist in der sozialdemokratischen CHP, versprach bisher unter anderem eine Anhebung des Mindestlohns, die Umleitung der bisher für die syrischen Flüchtlinge in der Türkei aufgebrachten Summen für neue Sozialleistungen des Staates und die Verkürzung des Wehrdienstes auf zwei Monate. İnce ebenso wie Akşener kündigen im Fall eines Wahlsieges auch die Aufhebung des seit bald zwei Jahre geltenden Ausnahmezustands im Land an. Damit würde das Vertrauen der Investoren in die Türkei wiederhergestellt, sagt İnce. Wer dagegen Erdoğan wähle, bekomme einen Kurs von zehn Lira für einen Dollar.

Lira stabilisiert

Der Sturz der türkischen Währung hatte sich nach der Ankündigung vorgezogener Wahlen noch einmal stark beschleunigt. Eine Leitzinserhöhung vergangene Woche und Treffen von Zentralbankchef Murat Çetinkaya und Vizepremier Mehmet Şimşek mit Portfoliomanagern in London haben den Kurs im Moment auf unter 4,50 Lira für einen Dollar stabilisiert. Die schwache Währung treibt die Inflation in der Türkei an und bringt türkische Unternehmen mit Dollarkrediten in erhebliche Probleme.

Meral Akşener präsentierte mittlerweile auch ihr Wahlprogramm. Sie verspricht die Rückkehr zu einer parlamentarischen Verfassung, die Senkung der Sperrklausel für den Einzug von Parteien ins Parlament von zehn auf fünf Prozent, Kampf gegen Korruption und mehr Transparenz bei den Staatsausgaben.

Vertrauensschwund

Die Finanzierung von Erdoğans verwirklichten oder noch geplanten "Megaprojekten" im Land stellt Politiker wie Ökonomen seit Jahren vor Fragen. Einer neuen Umfrage zufolge misstrauen erstmals mehr Türken Erdoğan als ihm Vertrauen schenken. Laut Metropoll erklären sich 47,8 Prozent der Befragten nicht zufrieden mit dem amtierenden Präsidenten, 46,3 Prozent unterstützen ihn; 5,9 Prozent hatten keine Meinung oder äußerten sich nicht. Nach dem vereitelten Putsch im Juli 2016 lag die Zustimmung für Erdoğan bei 67,6 Prozent. (Markus Bernath; 31.05.2018)